Hand-Arbeit und Gehirnentwicklung Ernst-Michael Kranich in: Erziehungskunst. Heft 5/ 2002
Die menschliche Hand ist, wie es in einem bekannten Lehrbuch der Orthopädie heißt, »das höchst differenzierte Bewegungsorgan, das überhaupt existiert« (Debrunner 1983, S. 365). Sie ist, wie man an anderer Stelle lesen kann, »biomechanisch betrachtet, sicher der komplizierteste Körperteil« (Reill 1999, S. 62). Es gibt in der Tat kein anderes Organ, mit dem ein lebendiges Wesen so vielfältige Bewegungen ausführen kann wie der Mensch mit seinen Händen. An vielen dieser Bewegungen sind auch die Arme beteiligt. Dann sind die Bewegungen eine den Arm und die Hand übergreifende Ganzheit (Jeannerod 1994, S. 535 ff.).
Arme und Hände sind vollkommen auf die freie, von innen geführte Bewegung hin gebildet. Das zeigt sich am Bau dieser Organe bis in viele Einzelheiten. Die Arme gliedern sich mit dem Schultergelenk, d. h. am Schulterblatt an den Rumpf an; das Schulterblatt ist aber ohne direkte Verbindung mit dem übrigen Skelett höchst beweglich in Muskeln eingebettet. Es hat nur durch das Schlüsselbein Kontakt zum Brustbein des Brustkorbes, d. h. zur Atemorganisation. Am Schulterblatt berührt die Gelenkkugel des Oberarmknochens die kleine Gelenkpfanne in einer Weise, dass das Gelenk einen denkbar großen Bewegungsspielraum freilässt. So werden die Bewegungen des Oberarms ganz von der Muskulatur bzw. von den in ihr wirkenden Bewegungsimpulsen bestimmt. Die Beweglichkeit steigert sich dann im Ellbogengelenk durch die Streck- und Beugebewegungen des Unterarms und die Drehbewegungen, durch die der Mensch seine Hände nach oben (Supination), zur Mitte und nach unten (Pronation) wendet. Dann folgen die Bewegungen im Handgelenk und die vielfältigen Bewegungen der Finger. So werden die Bewegungen vom Oberarm bis zu den Händen und Fingern immer differenzierter.
Was die menschliche Hand von allen ähnlichen Gebilden im Tierreich vor allem unterscheidet, ist die Lage des Daumens zu den anderen Fingern und seine große Beweglichkeit. Dadurch kann der Mensch den Daumen und die übrigen Finger aufeinander zu bewegen, kleinere oder größere Gegenstände in ganz verschiedener Weise ergreifen und durch die Beweglichkeit der Arme und Hände auf die vielfältigste Weise handhaben. Wenn man einen Gegenstand wie einen Stift oder eine Stricknadel in den Fingern hält, übt man mit dem Daumen auf die beiden anderen Finger und mit diesen auf den Daumen einen Druck aus; die Willensaktivität im Daumen und die in den Fingern wirken wechselseitig aufeinander. Dadurch erlebt der Mensch sich selbst, wenn er einen Gegenstand ergreift. Er nimmt diesen in sein Selbsterleben auf; er verbindet sich als Ich-Wesen mit den Gegenständen und mit den Werkzeugen, mit denen er eine Arbeit verrichtet. Damit wird deutlich, dass die Hand ein Glied der menschlichen Ich-Organisation ist, die am umfassendsten in der vertikalen Haltung des Menschen zum Ausdruck kommt. Die freie Beweglichkeit der Arme und Hände steht in innigster Beziehung zur vertikalen Haltung; sie ist ohne diese nicht denkbar.
In den Bewegungen der Arme und Hände manifestiert sich der Mensch auf unterschiedliche Weise. In den Gesten und Gebärden äußern sich immer innere Erlebnisse. Man nimmt unmittelbar den Ausdruck von Gefühlen und Emotionen wahr, aber auch Nachdenklichkeit, Zustimmung oder Verneinung. Das sind unwillkürliche Manifestationen des Seelenlebens; insofern sind Arme und Hände Organe der Seele. Anderer Art sind die Geschicklichkeiten, die der Mensch im Laufe seines Lebens lernt. Sie reichen vom gezielten Ergreifen eines Gegenstandes bis zum virtuosen Klavierspiel eines Pianisten und vom gewöhnlichen Gehen bis zu den artistischen Bewegungen eines Tänzers oder einer Eurythmistin. Diese Bewegungen sind im Weiteren unser Thema mit dem Blick auf jene Prozesse, die sich beim Erlernen bestimmter Geschicklichkeiten im Handarbeitsunterricht abspielen.
Das Erlernen einer Handgeschicklichkeit wie Schreiben oder Stricken hat verschiedene Bedingungen. Man muss durch den Tastsinn empfinden, dass man den Stift oder die Stricknadel genügend im Griff hat. Vor allem benötigt man ein sensibles Bewusstsein der Hand- und Fingerbewegungen durch den »Bewegungssinn« (kinästhetischer Sinn, Tiefensensibilität). Hätte man in der Hand und den Fingern keine Wahrnehmung von der momentanen Stellung und Bewegung, dann könnte man die Bewegungen nicht bewusst lenken. Bewegungskontrolle durch den Bewegungssinn und seine feinen Organe in den Muskeln (Muskelspindeln) und in den Sehnen zwischen den Muskeln und Knochen (Golgi-Sehnenorgane) ist die Voraussetzung für das Erlernen einer Geschicklichkeit. Zunächst erfährt das Kind, wie es die Buchstaben schreiben soll oder wie es beim Stricken zu den neuen Maschen kommt. Es hat eine Bewegungsvorstellung; doch bereitet ihm die Ausführung Mühe, weil der Wille zunächst ungeschickt ist. Deshalb kontrolliert es den Bewegungsablauf vor allem auch durch die Augen von außen. Durch das Üben folgen die Bewegungen im Laufe der Zeit immer leichter den Bewegungsvorstellungen; der Wille macht einen Entwicklungsprozess durch. Denn wenn das Kind die Geschicklichkeit erworben hat, ist die Bewegungsgesetzmäßigkeit, die es zunächst in der Vorstellung hatte, zu einer Eigenschaft des Willens geworden. Der Wille hat sich im Sinne dieser Gesetzmäßigkeit organisiert; diese ist ganz in die Willensregion übergegangen.
Wenn man verfolgt, wie beim Häkeln oder Stricken ein Gewebe entsteht, dann sieht man, wie intelligent dieser Vorgang ist. Das Gewebe entsteht, indem durch äußerst komplizierte feinmotorische Bewegungsvorgänge der rechten Hand und ein genau abgestimmtes Zusammenwirken mit der linken Hand an die bisherigen Maschen neue angefügt werden. Lernt ein Kind Häkeln oder Stricken, dann wird die diesen Tätigkeiten immanente Intelligenz zu einer Eigenschaft des Willens; das Kind wird in seinem Willen intelligent. Es gibt nicht nur die Intelligenz des Kopfes, sondern auch eine der Hände und Finger. Sie ist der subtilste Bereich der praktischen bzw. »körperlich-kinästhetischen Intelligenz«, zu der Howard Gardner die Körperbeherrschung des Schauspielers, Tänzers, Pantomimen und Sportlers, aber auch solche feinmotorischen Fertigkeiten wie das Klavierspiel eines Pianisten und das Maschineschreiben rechnet (Gardner 1994, S. 191 ff.).


Lernt ein Kind im Handarbeitsunterricht eine der genannten Fertigkeiten, dann vollziehen sich ganz bestimmte Prozesse zwischen dem Gehirn des Kindes und seinen Händen, aber auch solche zwischen den Bewegungen der Hände und dem Gehirn. Von diesen betrachten wir im Folgenden nur die zwischen dem Vorderhirn und den Händen. Die Bewegungsvorstellung bildet das Kind in bestimmten Regionen der vorderen Gehirnhälfte, in dem sogenannten prämotorischen und supplementär-motorischen Areal. Man hat fest-gestellt, dass dieses Areal stärker durchblutet wird, wenn man sich eine bestimmte Bewegung vorstellt. Das ist der physiologische Ausdruck dieser Vorstellungstätigkeit. Die Vorstellung dringt dann, wenn das Kind den Entschluss zur Ausführung seiner Absicht gefasst hat, auf bestimmten Bahnen in die Willensorganisation der Hände und Finger. Der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield hat in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts herausgefunden, dass eine genaue Beziehung zwischen der Bewegungsmuskulatur des ganzen Leibes und jener Gehirnwindung besteht, die vor der sogenannten Zentralfurche liegt. Die verschiedenen Abschnitte dieser Windung (Gyrus praecentralis) stehen durch die Nerven zu ganz bestimmten Muskeln bzw. Muskelgruppen der menschlichen Willensorganisation in Beziehung und liegen so nebeneinander wie die verschiedenen Körperregionen mit ihrer Muskulatur. Insofern ist diese Windung wie ein Abbild des menschlichen Leibes. Die Areale, die zu Organen mit besonders differenzierten Bewegungen in Beziehung stehen, sind auffallend groß. Zu diesen gehören die Hand- und die Fingerareale. Wenn das Kind nun durch den Entschluss zu einer Betätigung seiner Hände und Finger übergeht, dann dringt die Bewegungsvorstellung von der supplementär-motorischen Region auf dem Wege über das Hand- und Fingerareal der präzentralen Gehirnwindung durch einen Nervenstrang (Tractus corticospinalis) in den entsprechenden Abschnitt des Rückenmarks und von hier durch eine weitere Nervenbahn in die Muskeln der Hand und der Finger.¹ Hier entzündet sie die Willenstätigkeit, durch die das Kind dann seine Hand und seine Finger bewegt. Auf diesem Weg dringen aus dem Haupt des Kindes Gedanken und Vorstellungen in die Willensorganisation der Hände und Finger und bestimmen hier die gesetzmäßige Abfolge der Willensbetätigung.
Zugleich geht von den Bewegungen ein Einfluss auf das Gehirn aus. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der Tast- und vor allem der Bewegungssinn bei den Bewegungen eine entscheidende Rolle spielen, besonders bei den feinen, z. T. äußerst subtilen Bewegungen der Hände und Finger. Dementsprechend sind der Tast- und Bewegungssinn hier auch besonders gut ausgebildet; man hat in jenen Muskeln der Hand, durch die man die Finger beugt, auffallend viele Muskelspindeln (die Organe des Bewegungssinns) gefunden. Vom Tast- und Bewegungsempfinden dringen Wirkungen durch bestimmte Nervenbahnen hinauf ins Gehirn, und zwar zunächst in jene Windung, die hinter der Zentralfurche liegt (postzentrales Feld, Gyrus postcentralis). Auch hier besteht eine geordnete Beziehung zu den verschiedenen Bezirken des Tast- und Bewegungssinnes des ganzen Leibes. Und hier sind jene Areale besonders groß, die wie das der Hand und der Finger unter dem Einfluss einer hohen Bewegungs- und Tastsensibilität stehen.
Man hat in den letzten Jahrzehnten gefunden, dass der Einfluss von Hand und Fingern auf das Gehirn äußerst dynamisch ist. Den ersten Hinweis erhielt man durch das Experiment mit einem Affen, den man dazu brachte, über mehrere Wochen jeden Tag eine Stunde lang zwei Finger einer Hand zu betätigen. Nach dieser Zeit waren die Areale der beiden Finger im postzentralen Feld deutlich größer als am Beginn des Experiments (Merzenich 1987). Man kennt auch entsprechende Tatsachen beim Menschen. So fand man, dass bei Geigern die Areale der beiden Hände eine unterschiedliche Ausdehnung haben. Das der rechten Hand und ihrer Finger ist durch ihre große und zugleich äußerst präzise Beweglichkeit gegenüber dem der linken Hand deutlich vergrößert. Bereits komplizierte Bewegungen der Finger von nur 30 Minuten führen zu einer »Größenzunahme der aktivierten Areale in der [entsprechenden] Handregion«, die sich allerdings nach einer Woche wieder zurückbildet (Altenmüller 1999, S. 102). Besonders eindrucksvoll ist folgende Beobachtung: Es gibt Kinder, an deren Händen die Aufgliederung zu den einzelnen Fingern ausgeblieben ist. Bei dieser »Verwachsung« (Syndactylie) ist das Handareal im postzentralen Feld erheblich kleiner als bei normalen Kindern. Nun kann man durch einen chirurgischen Eingriff die Finger voneinander trennen »und eine anatomisch korrekte Hand herstellen. Im Gehirn vollzieht sich jetzt noch Erstaunlicheres. Innerhalb einiger Wochen breiten sich die Repräsentationen der Finger im Rindenfeld aus und nehmen ihren angestammten Platz ein« (Weinmann 1999, S. 37). Überblickt man diese und weitere Befunde, so muss man annehmen, dass auch durch Häkeln, Stricken und andere feinmotorische Handfertigkeiten des Handarbeitsunterrichts die Areale von Hand und Fingern im Gehirn der Kinder größer werden. Das deutet aber darauf hin, dass damit auch die Intelligenz der Hände und Finger einen Einfluss auf das Gehirn als das Organ des Denkens gewinnt.
1 Die Muskeln für die Bewegung der Hand und der Finger liegen im Unterarm und in der Hand. Bevor wir darüber weitergehende Erörterungen anstellen, müssen wir zunächst die Auffassungen der Physiologie über die Bedeutung jener Botschaften zur Kenntnis nehmen, die von den Organen des Tast- und Bewegungssinns dem Gehirn zufließen. Gelangen sie nicht ins Gehirn, weil die entsprechenden Areale in der Windung hinter der Zentralfurche geschädigt sind, dann ist die Empfindung in den korrespondierenden Teilen des Leibes zunächst beeinträchtigt. Eine Verletzung bedingt außerdem »eine afferente Parese, bei der die Muskelkraft erhalten bleibt, die genaue Steuerung der Extremitäten jedoch stark herabgesetzt ist, so dass ein Patient mit einer Hand oder einem Fuß bei Ausbleiben kinästhetischer Empfindungen [d. h. bei partiellem Ausfall des Bewegungssinns] keine Willkürbewegungen mehr auszuführen vermag« (Lurija 1996, S. 171). Es gibt noch weitere Störungen, die in der gleichen Richtung liegen (ebenda, S. 172 ff.).
Der Mensch kann die Geschicklichkeit seiner Hände und Finger nur steigern, wenn beim Üben der Bewegungssinn sensibler und regsamer wird. Das führt zu der Ausweitung der entsprechenden Areale im postzentralen Feld. Damit ist aber noch nicht die ganze Bedeutung dieses Geschehens formuliert. Denn wenn der Bewegungssinn einen stärkeren Einfluss auf das Gehirn gewinnt, dann betrifft das auch die Gesetzmäßigkeit in den Bewegungsabläufen. Nun wird seit kurzer Zeit von verschiedenen Forschern den Händen außer den bisher bekannten Funktionen eine neue zugeschrieben. So vertritt der amerikanische Neurologe Frank R. Wilson die Auffassung, die Entwicklung der menschlichen Hand im Laufe der Evolution sei ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des Gehirns und der geistigen Funktionen des Menschen (Wilson 2000). Der bekannte finnische Neurophysiologe Matti Bergström weist darauf hin, dass ein sinnvoller Gebrauch der Finger eine große Bedeutung für die Entwicklung des geistigen Verstehens habe. Wenn Kinder nicht veranlasst werden, ihre Finger und das kreative Gestaltungsvermögen ihrer Handmuskeln zu üben, dann versäume man, ihr Verständnis für den geistigen Zusammenhang (unity) der Dinge zu entwickeln; man verhindere die Entfaltung ihrer ästhetischen und schöpferischen Kräfte. In die gleiche Richtung weist folgende Bemerkung von Howard Gardner: »Psychologen [haben] in den letzten Jahren eine enge Beziehung zwischen dem Gebrauch des Körpers und der Entwicklung anderer kognitiver Kräfte entdeckt und betont« (Gardner 1994, S. 193). Und er erwähnt, dass nach dem englischen Psychologen Frederic Bartlett das Denken auf den gleichen Prinzipien beruhe wie die Manifestationen physischer Fähigkeiten, d. h. der praktischen Intelligenz (ebenda, S. 193).
Damit erscheinen Bemerkungen Rudolf Steiners aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts über die Bedeutung der Hand- und Fingergeschicklichkeit höchst aktuell. In einem seiner pädagogischen Vorträge heißt es: Viele wissen gar nicht, »was man für ein gesundes Denken, für eine gesunde Logik hat, wenn man stricken kann« (Steiner, GA 306, S. 142). Und in einem anderen Vortrag ebenfalls im Hinblick auf den Handarbeitsunterricht: »Wenn man weiß, dass unser Intellekt nicht dadurch gebildet wird, dass wir direkt losgehen auf die intellektuelle Bildung, wenn man weiß, dass jemand, der ungeschickt die Finger bewegt, einen ungeschickten Intellekt hat, wenig biegsame Ideen und Gedanken hat, während derjenige, der seine Finger ordentlich zu bewegen weiß, auch biegsame Gedanken und Ideen hat, hineingehen kann in die Wesenheit der Dinge, dann wird man nicht unterschätzen, was es heißt, den äußeren Menschen mit dem Ziel zu entwickeln, dass aus der ganzen Handhabung des äußeren Menschen der Intellekt … hervorgeht« (Steiner, GA 301, S. 80).
Wir wollen der Richtung, in die diese verschiedenen Äußerungen weisen, ein Stück weit folgen.
Durch den Bewegungssinn verfolgt man die Bewegungen von Hand und Fingern. Dadurch wird uns der vom Willen impulsierte Bewegungsablauf bewusst. Wir haben gesehen, dass bei einer Tätigkeit wie dem Häkeln und Stricken dieser Bewegungsablauf von Intelligenz durchdrungen und bestimmt ist. Die von Intelligenz bestimmte Folge der Einzelbewegungen empfindet man im Bewegungssinn. Nun hat die Regsamkeit des Bewegungssinns, wie das geschildert wurde, einen starken Einfluss auf das postzentrale Feld des Gehirns. In dieser Regsamkeit lebt aber beim Stricken und Häkeln die Intelligenz. Sie ist offensichtlich ein entscheidender Faktor beim Größerwerden der entsprechenden Areale im postzentralen Feld. Damit lernt man einen bedeutenden Sachverhalt kennen, dass nämlich die Intelligenz der Hände und Finger bei der Ausweitung dieser Areale in das Gehirn hineinwirkt. Man muss dabei bedenken, dass diese Areale zu weite-ren Regionen des Gehirns in Beziehung stehen – besonders zu bestimmten Regionen des Scheitellappens, des Schläfenlappens, aber auch mit dem Frontalhirn. Sie sind das physisch-physiologische Substrat für ganz unterschiedliche Vorstellungs- und Denkprozesse. So ist das Frontalhirn unter anderem das Organ für das Erfassen komplexer geistiger Zusammenhänge. Man kann also annehmen, dass die Intelligenz der Hände auf dem Weg über das postzentrale Feld in diese weiteren Regionen des Gehirns hineinwirkt und einen Einfluss darauf gewinnt, wie man hier Vorstellungen und Gedanken bildet.
Was heißt das nun konkret? Vielfach werden Tatsachen ohne einen inneren Zusammenhang miteinander verknüpft. Man stellt z. B. fest, dass aus der chemischen Vereinigung von Wasserstoff und Sauerstoff Wasser entsteht. Nun hätte man verständlich zu machen, wie aus den im Wasserstoff und Sauerstoff vorhandenen Eigenschaften und Kräften bei ihrem Zusammenwirken die des Wassers resultieren. Man setzt an die Stelle einer wirklichen Erklärung das Modell des Wassermoleküls. Oder man beobachtet, wie unter einem bestimmten Einfluss der Sonne (Wärme und Tageslänge) Pflanzen Blüten bilden. Nun hätte man zu zeigen, wie aus der verstärkten Wirksamkeit von Licht und Wärme der Umwandlungsprozess zur Blüte resultiert. Man sollte den Schritt in der Entwicklung der Pflanze nicht auf Hormone und bestimmte Gene zurückführen. Leicht ließen sich weitere Beispiele auch aus anderen Gebieten und dem Alltagsdenken anführen, wo sich Erklärungen bei genauerem Hinsehen als bloße Behauptung entpuppen.
Man bemerkt, dass ein unzureichendes Denken immer wieder vorschnell Tatsachen und Gedanken miteinander verknüpft. Der Gedankengang wird nicht mit innerer Logik weitergeführt. Er bricht ab, und es wird etwas angeknüpft, was keinen inneren Zusammenhang mit dem Vorangehenden hat. Demgegenüber hat man im Denken mit innerer logischer Konsequenz nach evidenten Zusammenhängen zu suchen.
Welcher Art ist nun z. B. die dem Stricken immanente Intelligenz? Da entsteht ein gesetzmäßig zusammenhängendes Gewebe, indem man die Bewegungen seiner Hände und Finger so lenkt, dass das nächste Glied – die nächste Masche – »innerlich« an eine vorangehende angefügt wird, weil die neue Masche durch frühere hindurchgezogen wird. Die Intelligenz des Strickens lebt in den äußerst geschickten feinmotorischen Bewegungen, durch die jedes neue Glied des Ganzen aus der gesetzmäßigen Verknüpfung mit den anderen Gliedern entsteht. Was bedeutet es, wenn diese Intelligenz in das Gehirn hinein-wirkt und dort einen Einfluss auf das Denken gewinnt? Der Wunsch wird angeregt, im Denken jeden Schritt aus dem inneren Zusammenhang mit den vorangehenden Schritten zu tun und nur das gelten zu lassen, was wirklich einleuchtet, weil der Zusammenhang mit dem anderen evident geworden ist. Wenn man dieses Denken gesund nennt, weil es seine innere Schwäche überwunden hat, dann kann man sagen: Das Gebiet der Handar-beit hat eine wichtige Funktion auch in der geistigen Entwicklung der Kinder. Denn wenn ein Kind häkeln, stricken und manche der anderen praktischen Fähigkeiten lernt, dann werden seine Hände intelligent. Und von der Intelligenz der Hände geht eine Wirkung aus, durch die sich sein Denken gesund entwickeln kann.
Zum Autor: Dr. Ernst-Michael Kranich, geboren 1929, Studium der Biologie, Paläontologie, Geo-logie und Chemie in Tübingen. Promotion in Botanik. Mehrere Jahre Oberstufenlehrer an einer Waldorfschule. Von 1962 bis 1999 Leiter der Freien Hochschule Stuttgart/Seminar für Waldorfpäd-agogik. Zahlreiche Publikationen zur Botanik, Zoologie und Anthropologie.
E. Altenmüller: Vom Spitzgriff zur Liszt-Sonate, in: M. Wehr / M. Weinmann (Hrsg.): Die Hand … (s. unter M. Wehr …)
A. Debrunner: Orthopädie, Bern – Stuttgart – Wien 1983
H. Gardner: Abschied vom IQ. Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen, Stuttgart 1994 M. Jeannerod: Reichen und Greifen, in: Enzyklopädie der Psychologie, Band »Psychomotorik«, hrsg. von H. Heuer, S. W. Keele, Göttingen – Bern – Toronto – Seattle 1994
R. Lurija: Das Gehirn in Aktion, Reinbek bei Hamburg 1996
M. M. Merzenich u.a.: Variability in hand surface representations in areas 3b and 1 in adult owl and squirrel monkeys, Journal of Comparative Neurology 1987
P. Reill: Alles im Griff, in: M. Wehr / M. Weinmann: Die Hand … (s. unter M. Wehr …)
J. Rohen: Funktionelle Anatomie des Menschen, Stuttgart – New York 1973
R. Steiner: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft, GA 301, Dornach 31977
R. Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkt geisteswissenschaftlicher Menschener-kenntnis, GA 306, Dornach 41989
M. Wehr / M. Weinmann (Hrsg.): Die Hand. Werkzeug des Geistes, Heidelberg – Berlin 1999
M. Weinmann: Hand und Hirn, in: M. Wehr / M. Weinmann: Die Hand …
F. R. Wilson: Die Hand – Geniestreich der Evolution, Stuttgart 2000