MICHAEL MARTIN
R. Steiner hat für die Wandfarben der damals entstehenden Waldorfschulen (Stuttgart, Hamburg, London) Vorschläge gemacht, die sehr unterschiedlich waren. Der einzige Hinweis auf die Farbgestaltung der Werkstätten geschah 1922/23 in Stuttgart und lautete «Handwerk: Orange». Da diese Aussage nur schriftlich vorlag und keine weitere Erläuterung gegeben wurde, bleibt dem daran Interessierten die notwendige Aufgabe, sich selbst mit der Farbqualität des Orange zu verbinden, um eine objektive Rechtfertigung dafür zu suchen und dann für die verschiedenartigen Werkstätten die «richtigen» Nuancen zu finden.[1]
Ich hatte in meiner Jugendzeit starke Farberlebnisse, die mir zur Gewissheit brachten, dass sich der Mensch von Farben ebenso ernährt wie vom Essen und Trinken; nicht etwa vor den Kunstwerken alter Meister, sondern in langjähriger russischer Gefangenschaft. Die Lebensverhältnisse spielten sich in solcher Situation mit großer Gleichförmigkeit ab: Jeden Tag derselbe Weg zur Arbeit, dieselben kahlen Gebäude, der Blick in eine öde Weite - ohne Entrinnen. Es herrschte ein kühler Farbklang vor (grau-umbra-grün-blau-weiß), der sich auch durch die atmosphärischen Erscheinungen in langen Zeiten nur wenig veränderte und besonders die warmen, «sympathischen» Farbklänge nicht hervorbrachte.
Da waren es die kräftig-strahlend orangefarbenen Blüten der Tagetes, die ich mir heimlich nach der Nachtschicht aus einem kleinen bunten Blumenbeet brach, das irgendwo zwischen trostlosen Fabrikgebäuden angelegt war. Ich sog den Duft und die Farben wie ausgehungert auf; dadurch wurde mir der alltägliche Mangel an Farben-Nahrung deutlich bewusst. Ähnliches erlebte ich später an feurig-roten Ziegelsteinen, die eines Tages auf einer Baustelle angefahren wurden. Erst später erkannte ich, dass das Orange mit seiner lebensbejahenden Ausstrahlungskraft dem zeitweise niedergeschlagenen, hoffnungslosen Gemüt eine echte Stärkung bedeutete durch eine aus ihm selbst strömende, der Welt zugewandte Lebensfreude, die sich mir mitteilte.
«Orange hat genau wie Gelb etwas Ausstrahlendes, unterscheidet sich von diesem aber doch wohl in der «Substanz» seiner Strahlung, die viel schwerer, irdischer, viel wärmer und eben dichter ist. Deshalb gilt Orange auch nicht als Farbe der Kommunikation allein, sondern sie hat die Nebenbedeutung einer mitteilsamen, wärmenden Farbe, die ein Ausdruck des Partizipationsbedürfnisses ist. Die Wärme müssen wir uns bildhaft so denken, dass hier ausweitende Strahlkraft des Gelben mit der autonomen Urkraft des Roten zusammenkommt, so dass die Kraft des Roten gewissermaßen auf den Schwingen des luftigen Gelb davongetragen werden kann. Denn Wärme ... strahlt immer auf uns zu, eine warme Farbe scheint uns näherzukommen.»[2]
Im Orange spiegelt sich der Sinn für Musisches, aber auch für das Handwerkliche - so beschreibt H. Frieling das Erleben des Orange, in ihm kennzeichnet sich Antriebskraft, das Extrovertierte, die Gefühlswärme. Diese Erfahrungen und Erkenntnisse der Farbenpsychologie werden heute längst sinngemäß angewendet. Orange kommt in der natürlichen Umgebung nicht häufig vor; es fällt dadurch, aber auch durch seine lebensnahe Frische leicht ins Auge. Überall da, wo etwas weitergeht von einem Zustand zu einem anderen (bei der Verkehrsampel oder dem Blinker am Auto), wo sich etwas bewegt und regt und deshalb besonders beachtet werden muss (wie der Gabelstapler oder der Schaufellader), hat das Orange den rechten Platz.
«Orange ist die natürliche Farbe des Feuers, der Flamme. Denn Feuer ist keinesfalls rot, wie man nach der Symbolisierung Rot = Feuer denken sollte. Bewegte orangefarbene Papierzungen können den Eindruck von Feuer viel überzeugender wiedergeben als rote Zungen. Erst das Glimmen ist rot - und hier eben ist die Flamme schon mit dem, was brennt, gleichsam eins geworden. Wir sehen den Weg vom Luftigen, rein Feurigen, bis zum Irdischen in der Farbreihe Gelb-Orange-Rot. Diese Reihe nennen wir seit Goethe auch die Farbsteigerung. Mit der Steigerung des Rotgehaltes ist zugleich eine höhere Verdichtung verbunden.»[3]
Gerade der hier beschriebene Fortgang vom Luftigen über das Feurige zum Irdischen kann uns helfen, die Hinneigung des Orange zu allem Tätigen auf der Erde zu empfinden. Ein leuchtendes, weder plakatartig-knalliges noch aber stumpf-träges Orange als Grundstimmung eines Raumes kann die munteren Schaffenskräfte des Kindes anregen und beleben.
R. Steiner vermochte es, noch tiefergehende Erkenntnisse aus dem Farberleben zu schöpfen und zeigt Wege, wie man dazu kommen kann, sie zu erüben. Er weist hin «auf ein noch intensiveres Beisammensein mit der äußeren Welt, auf ein so starkes Zusammensein, dass es sich nicht bloß erstreckt auf den äußeren Eindruck der Farbe, des Tones und der Form, sondern auch auf dasjenige, was man hinter dem Tone, hinter der Farbe, hinter den Formen erleben kann, was sich offenbart in Farbe, Ton und Form.»[4]
Aus diesem gleichsam meditativen Eintauchen in das Wesen des Orange sagt er, dass es etwas sei, «was uns mit innerer Kraft ausrüsten will. Indem wir hineingehen in die Welt und eins geworden sind mit der Orangefläche, bewegen wir uns so, dass wir mit jedem Schritt, den wir weiterkommen, fühlen: Durch diese Empfindung im Orange, durch dieses Leben in den Orangekräften werden wir uns so in die Welt hineinkraften, dass wir stärker und stärker werden... Wir lernen durch das Leben im Orange die Erkenntnis, die Sehnsucht nach der Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge.»[5] Jeder, der einmal mit ganzer Hingabe ein Stück Holz gestaltet, Ton geformt oder auch nur die Wolle zu einem Faden gedreht hat, kann diese Arbeit als einen inneren Drang erleben, in die Tiefe eines Vorganges, eines Werkstoffes so einzutauchen, dass er sich mit dessen Wesen verbindet. Die Erfahrung, die der Handwerker aus solchen Prozessen gewinnt, ist das Resultat dieser «Sehnsucht nach der Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge», die dann zur Meisterschaft in einem Handwerk führen kann. Das diesem zugrunde liegende seelische Erleben ist, in Farbe ausgedrückt, Orange.
Orange entzündet die seelische Grundstimmung, die in einer Schulwerkstatt herrschen soll!
[1] Rex Raab, Arne Klingborg, «Die Waldorfschule baut»
[2] H. Frieling «Mensch und Farbe»
[3] Siehe Fußnote 2
[4] R. Steiner, GA 291,1.1.1915
[5] Siehe Fußnote 4