Die Initiative zu diesem Buch geht auf Ernst Weißert (1905 - 1981) zurück, den Begründer der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen in Deutschland. Es war ihm bei seiner reichen Wirksamkeit für die Waldorfschule und ihrer Pädagogik zuletzt ein besonderes Anliegen gewesen, dass einzelne Monographien über die verschiedenen Unterrichtsgebiete als Anregungen zu weiterführendem Austausch und ebenso zur Weitergabe der gewonnenen pädagogischen Erfahrung entstehen.
Auch der künstlerisch-handwerkliche Unterricht der Waldorfschulen wird ganz auf das Pädagogisch-Menschliche gestellt. Er kann sich darum nicht direkt auf die Ausbildungserfordernisse bestimmter Berufssparten ausrichten; er sollte auch ebenso wenig ein bloß Spielerisches betreiben, das im Kunstgewerblichen verbleibt. Weder ein solches «l'art pour l'art» noch jenes «l'art pour la profession» kann hier die Motivation sein, sondern in der Schule möchte die künstlerisch-handwerkliche Arbeit dem pädagogischen Mandat dienen. Das aber heißt, dem heranwachsenden Kind und Jugendlichen auch hierin zu sich selbst zu verhelfen. Und die Selbstentdeckung geschieht ja geheimnisvollerweise dadurch, dass das Kind gerade auch in den praktischen Fächern über das zu formende Material, über die tätige Leiberfahrung, über die Bedürfnisse des auch in ihm immer vorhandenen Künstlers ein Stück Welterfahrung gewinnt.
Der menschenbildende Wert handwerklicher Praxis schließt sich dem anthroposophisch vertieften Menschenverständnis auf. Es bemerkt, dass in den auf systematisierte Strukturen hin gerichteten Lernleistungen keineswegs eine geistige Tätigkeit vorliegt, sondern nur eine nachträgliche Konservierung derselben. Es gehört zu den Entdeckungen Rudolf Steiners, dass der lebendig wirksame Geist oft mehr in der Handlungsweisheit gelebter Praxis anzutreffen ist als in der Reflexion, wenn sie nur Reflexion bleibt.[1] Für die letztere ist das Gehirn das Denkorgan. Aber für die erstere sind die tätigen Gliedmaßen selbst die realen Erkenntnisorgane. In der handgreiflichen Tätigkeit denken wir nur anders als im Inneren des Kopfes. Es gibt eine für das ganze Leben und für jeden Berufsweg wichtige, ja notwendige Handlungsintelligenz, die zuerst mit Händen und Füßen im Kindesalter gelernt wird. Der Sprachgenius hat davon schon immer gewusst, so dass wir heute nicht vom Be-hirnen sprechen, sondern vom Be-greifen und Ver-stehen; und noch im Erkennen steckt das Wort «können». Sinnvoll sich übende leibliche Tätigkeit ist in Wirklichkeit lebendige Geistigkeit. Sogenannte geistige Arbeit ist vielfach nicht mehr als Strukturieren von Programmen, die in ihrer Weltentfremdung genug bekannt sind. Erst der lebenspraktische Mensch hat mit dem lebendigen Geist zu tun. Die Anthroposophie stellt damit den Geistbegriff auf einen neuen Boden und vermag dadurch fruchtbar ins Leben einzugreifen.
So versteht sich aller praktische Unterricht in der Waldorfschule als eminenter Ausgangspunkt der geistigen Förderung der Schüler. Erst tun - dann erkennen, erst erfahren - dann betrachten, erst Wirklichkeitsbegegnung - dann die distanzierte Reflexion, sonst bleibt auch diese inhaltsleer. Der Handarbeitsunterricht, der Gartenbau, die Landwirtschafts- und Forstpraktika und ebenso die sinnvolle Ansprache der Gliedmaßen im Eurythmie-, Gymnastik- und Turnunterricht unterstützen so die Unterrichtsbereiche mit, die in diesem Buch im Vordergrund stehen.
Die Pädagogische Forschungsstelle begrüßt sein jetziges Erscheinen deshalb herzlich und wünscht ihm fruchtbare Auswirkungen für den handwerklich-künstlerischen Unterricht innerhalb des Kreises aller anderen Fächer[2]. Sie dankt allen beteiligten Mitarbeitern, insbesondere Herrn Michael Martin, Nürnberg, für die Koordination und Herausgebertätigkeit und Herrn Dietrich Esterl, Stuttgart, für die begleitende Mithilfe.
Stuttgart, April 1991 Wolfgang Schad
[1] Vgl. R. Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293,13. Vortrag.
[2] In der gleichen Reihe erschienen:
Margrit Jünemann und Fritz Weitmann: Der künstlerische Unterricht in der Waldorfschule - Malen und Zeichnen
Hildegard Berthold-Andrae u.a.: Formenzeichnen
Hedwig Hauck: Handarbeit und Kunstgewerbe
Julius Hebing: Welt, Farbe und Mensch
Peter Fromm: Bewegungsbild und menschliche Gestalt (bibliogr. Angaben im Literaturverzeichnis)