MICHAEL MARTIN
Dem Naturforscher Galileo Galilei (1564 - 1642) wird der folgende Leitsatz seines Strebens zugeschrieben: «Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Mathematik lösen will, unternimmt Undurchführbares. Man muss messen, was messbar ist, und messbar machen, was noch nicht messbar ist.» In die Sprache des 20. Jahrhunderts übersetzt, lautet er so: «Nur wenn der Mensch frühzeitig Einsichten in naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen und Verständnis für mathematische Strukturen gewonnen hat, kann er die Probleme lösen, vor die er in der modernen rationalisierten Welt gestellt ist.» Das ist ein Wortlaut aus dem Beschluss der Kultusminister (1969), durch den die Mengenlehre bereits in den ersten Volksschulklassen eingeführt wurde. Er fährt fort: «Der Schule erwächst die Aufgabe, eine Grundbildung zu vermitteln, die auch auf ein mathematisches Erfassen unserer Wirklichkeit gerichtet ist.» Was im 16. Jahrhundert auf die naturwissenschaftlichen Probleme beschränkt blieb, wird heute ganz allgemein zum richtigen «Erfassen unserer Wirklichkeit» gefordert: Handhabung mathematischer Strukturen und Einsichten in naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen.
In unbeirrbarer Konsequenz verdichtet sich diese Anschauung durch die Jahrhunderte. Mit liebenswertem Humor beschreibt sie Wilhelm Busch:[1]
«Darwin sagt: Es gibt eine Entwicklung.» Nehmen wir an: von minus X über O zu plus X. Dann säße der Mensch auf Nr. 0, während der Affe etwa auf minus 1 herumkletterte. Der Fortschritt von minus 1 bis Null ist ersichtlich: die Erkenntnis, dass diese Welt ein Irrtum, dämmert auf... Gut! - Inzwischen stirbt alles Dasein, was auf Null gewesen und wird von plus eins absorbiert, wo es im Lichte neuer Intellekte, als sein eigener Erbe, den alten gemischten Nachlass sofort wieder antritt... Vorwärts! - Hier ist bereits plus 10.000.000,-. Viel Kopf, wenig Leib... Nahrung: Gemüse. Vermehrung: wie bisher. Der dicke Kopf kann den dünnen Leib noch immer nicht zur Raison bringen. - Weiter! - Plus zehn Milliarden. Nahrung: Luft. Vermehrung durch phlegmatische Knospenbildung. Der Mensch von Nr. 0 ist längst verschollen. - Schluss. - Plus X. Fast nur Kopf. Kaum etwas Wille, Vermehrung: keine. Die Intellekte, blasig herumschwebend, durchschauen alles gründlich. Das bisschen Wille verneint sich leicht, und alles verklingt, wie wir Musiker sagen, in einem versöhnlichen Akkorde...»
Heute (1989) berät man in den Kultusministerien, wie allen Schülern der 7. bis 10. Klassen schulartübergreifend eine «Informationstechnische Grundbildung» (ITG) als «vierte Kulturtechnik» neben Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt werden kann. So ist Schulbildung im Sinne dieser Entwicklungstendenz vornehmlich «Kopfbildung», die Gefahr läuft, dass Gefühl und Wille entweder verkümmern oder, wenn sie stark genug veranlagt sind, sich ungehemmt im Kind entfalten und ins Triebhafte abgleiten, den Menschen selbst terrorisieren und zu unbeherrschten Willensäußerungen hinreißen. Denken, Fühlen und Wollen greifen dann nicht mehr harmonisch ineinander.
Wer zu dieser «Bildung» nicht genügend Fähigkeiten mitbringt, verlässt die Schule frühzeitig und geht in eine Lehre. Ein Handwerk lernt, wer nicht intelligent genug ist für «höhere» Bildung. Handarbeit wird heute letztlich immer noch gewertet unter dem Gesichtspunkt mangelnder Intelligenz.
Hier setzt die Waldorfschule an. Rudolf Steiner erfasst den Menschen als dreigegliedertes Wesen mit Kopf, Herz und Hand. Er zeigt mannigfaltige Beziehungen auf, die zwischen ihnen bestehen; wie sie sich gegenseitig beeinflussen, fördern oder auch hemmen, wenn das notwendige Ausgewogensein zwischen ihnen nicht gewahrt oder gestört wird. Er weist auf, wie
sich alle drei Organisationen im Lauf der Zeit entwickeln und jedes Element sein Teil zur Bildung der Persönlichkeit unersetzbar beiträgt. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, die Kraft der Individualität entfalte sich durch einen rein intellektuellen Unterricht oder gar im nebenbei von allein; «Individualität» ist nicht an einem guten Notendurchschnitt oder Intelligenzquotienten messbar! Nur ein Unterricht, der den ganzen Menschen erfasst, anregt, durchdringt, kann es wagen, Bildung der Persönlichkeit zu versuchen.
In den Waldorfschulen wird der Entwicklung von Gemüt und Willen neben dem Intellekt deshalb größte Aufmerksamkeit zugewendet. Ja, die Förderung der Gemüts- und Willenskräfte entfaltet erst eine gesunde und lebendige Intelligenz und führt zum Erwecken und Reifen der Persönlichkeit.
[1] W. Busch (1832-1906), Briefe