ERNST BÜHLER
Das tief im Menschen verankerte Bedürfnis, sich aus der Gebundenheit an die Schwere zu befreien, beginnt sich schon kurz nach der Geburt im Kinde zu regen. Im Verlauf des ersten Lebensjahres hebt es sich in stets neu ansetzendem Bemühen durch den Aufrichteprozess allmählich aus der Waagerechten in die Senkrechte empor. Das ermöglicht auch den Händen, sich freier zu bewegen. Nach der Geburt bleiben sie über Wochen hinweg zu kleinen Fäusten geballt, gleichsam wie in Schlaf gehüllt. Allmählich fangen sie an, sich zu öffnen und mit den feingegliederten Fingern die ersten Bewegungen zu machen. Diese sind noch von keiner zweckgebundenen Absicht gelenkt. Sie bewegen sich allein aus dem Bedürfnis nach Betätigung. Erst nach einigen Monaten beginnen sich die Bewegungen der Finger aufeinander abzustimmen, um die vielen Dinge der nächsten Umgebung allmählich ergreifen zu können.
Das sind Lernprozesse, die das Kind ganz aus eigenem Antrieb unternimmt. Seine Hände wachsen dadurch zu immer geschickter werdenden «Werkzeugen» heran. Dies geschieht ohne von der Bewegung abgelöste Überlegungen. Tun und Denken bilden da noch eine Einheit. Erst allmählich entwickelt sich aus dieser Einheit das Denken des Kindes und führt letzten Endes zur Dualität von Tun und Denken, die für den Erwachsenen die Grundlage seines Handelns bildet. Das allmählich im Kopf erwachende Denken scheint also schon früh in einer völlig unbewussten Weise in der Geschicklichkeit der Hände wirksam zu sein. Das mag wohl dazu beitragen, dass das Kind in so starkem Maße das Bedürfnis empfindet, alles, was greifbar ist, in seine Hände hereinzunehmen. Was die Hand ertastet und ergreift, erfüllt mit der Zeit das Herz, und letzten Endes begreift es auch der Kopf. An dieser Stelle sei auf zwei Wortlaute von Rudolf Steiner aus dem Basler Kurs (1920) verwiesen: «Je mehr man darauf ausgeht, ... dass aus den Gliederbewegungen, aus der Geschicklichkeit der Intellekt wird, umso besser!» «Wenn wir in der richtigen Weise mit dem Kinde... künstlerisch-handwerklich arbeiten, dann arbeiten wir oft mehr am Geiste, als wenn wir dem Kinde beibringen, was man für das Geistige hält.»[1]
Die Hand ist von einem unersättlichen Erlebnishunger. Sie will die Dinge nicht nur ergreifen, betasten. Sie will geschickt werden, Fertigkeiten entwickeln und mit allem, was sie ergreift, umgehen lernen. Welche Freude bedeutet es für das Kind, den Löffel richtig fassen und selber zum Mund führen zu können oder die Tasse an die Lippen zu heben und mit den Händen in behutsamer Weise zu kippen, damit die Milch in bemessener Menge in den Mund einfließen und in ruhiger Regelmäßigkeit geschluckt werden kann! All dies geschieht aus einer in der Tätigkeit ruhenden Intelligenz heraus. Deshalb konnte Kant sagen, die Hand sei das äußere Gehirn des Menschen.
Diese Verbundenheit von Tun und Denken wirkt sich in sämtlichen Lernprozessen des kleinen Kindes aus. Sie waltet auch in allem, was wir als Nachahmung bezeichnen. Diese beruht auf einer Wahrnehmungsintensität, die es dem Kind ermöglicht, sich so vorbehaltlos mit der Umwelt zu verbinden, dass es mit ihr zu einer Einheit zusammenwächst. Es genügt ihm nicht, von einer Sache zu wissen. Sein Bedürfnis nach Verbundenheit ist so stark, dass es selbst zur Sache wird. Es ist die intensivste Form der Wahrnehmung, wenn man ein Objekt nicht nur betrachtet, sondern selbst zum Objekt wird. So steigert sich die Information zur Identifikation. Der Nachahmungsdrang des Kindes ist von einer solchen Gewalt, dass es gar nicht anders kann, als sich mit allem, was in seiner Umwelt geschieht, zu verbinden und selber zu tun, was rings um seine wachen Sinne getan wird, ganz im Sinne von Goethe: «Tätig zu sein ist des Menschen vornehmste Bestimmung.» Dieses elementare Verlangen nach Betätigung wirkt aus den unbewussten Willenstiefen heraus, muss aber von außen, das heißt von einer beeindruckenden Umgebung angeregt werden. Mangelt es an solchen Anregungen, können sich die Nachahmungskräfte nicht entfalten, und das Kind verwurzelt sich nicht genügend in der Umwelt. Das verhindert die Fähigkeit, sich in wirklicher Hingabe und Teilnahme mit einer Sache zu verbinden. Sind aber die Eindrücke der Umgebung zu stark, wie es in unserer lauten, von Sensationen überladenen Welt der Fall ist, treten Überreizungen auf, die hemmend auf die gesunde Entwicklung des natürlichen Betätigungsdranges einwirken.
Der wie eine Quelle aus dem Kind herausbrechende Betätigungsdrang zeigt auch eine freudige Bereitschaft, in seiner Umwelt beobachtete Arbeitsleistungen nachzuahmen. Weil aber die Arbeit weitgehend aus dem Erlebniskreis des Kindes verschwunden ist, müssen wir uns darauf besinnen, wo es noch Arbeitsprozesse nachahmen und dadurch die übermäßige, sich sonst im Sinnlosen austobende Motorik oder die drohende Untätigkeit überwinden kann.
Die Arbeit ist deshalb wichtig, weil sie dem Kind nicht gestattet, nur aus seinen spontanen Neigungen heraus zu leben. Es muss sich unter Umständen sogar überwinden, um sich auf das von ihr geforderte Verhalten einstellen zu lernen. Dadurch wird der heute so sehr verbreiteten Haltlosigkeit entgegengewirkt und dem seelischen Gefüge der Kinder Kraft und Entschiedenheit vermittelt. Auch wenn die früher in bäuerlichen und handwerklichen Familienbetrieben geleistete Arbeit fast ganz aus den Augen des Kindes verschwunden ist, kann sie selbst in allzu eng gebauten Mietwohnungen unserer Hochhäuser dem Kind zum Erlebnis gebracht werden.
Ich denke vor allem an die Küche. Das ist der Ort, wo das Kind erleben kann, wie für jede Mahlzeit etwas im Werden begriffen ist. Sich nicht nur am Essen, sondern auch an seiner Zubereitung in einer angemessenen Weise zu beteiligen, ist für das Kind eine Wohltat. Es gibt, wenn man die Bedeutung der kindlichen Mitarbeit einsieht, viele Möglichkeiten dazu. So ist es zum Beispiel ein beliebtes Geschäft, auf eigenem Brettlein mit eigenem Messer Rüb- lein, Kartoffeln oder andere geeignete Gemüse zu schneiden. Noch mehr vermag das Backen eines Kuchens zu erfreuen. Auch wenn es vorerst nur beim Zuschauen bleibt, können starke Empfindungen und Eindrücke entstehen. Schon das Rühren und Kneten eines Teiges vermag den kindlichen Erlebnishunger zu stillen. Wenn es aber auch ein Stücklein Teig kneten, zu einer kleinen Fläche auswalzen und einen eigenen kleinen Kuchen zustandebringen kann, ist das Glück vollkommen. Es ist auch reizvoll, beim Zubereiten eines Apfelkuchens die Schnitzlein in wohlgeordneten Reihen aneinanderzulegen, dem Rand des Kuchens entlang zuerst im großen Kreis und dann nach der Mitte hin in immer kleiner werdenden Rundungen. Diese konzentrischen Kreise erzeugen im Kinde eine durch Ordnung und Schönheit beglückende Wirkung, auch wenn es zuerst nicht recht gelingen will und ihm geduldig geholfen werden muss.
Besonders groß ist das Erstaunen, wenn es der Mutter zuschauen kann, wie sie mit dem Messer in einer allmählich sich bildenden schönen Spirale die Schale vom Apfel schält. So werden dem Kind Formerlebnisse von unvergesslicher Eindrücklichkeit vermittelt. Gleichzeitig beeindrucken auch Sorgfalt und Behutsamkeit, womit die Mutter bei ihrer kunstreichen Enthüllung des Apfels zu Werke geht. Beim Herausschneiden des Kernhauses erfreut es die Kinder, die Kerne zu sammeln, sie den Vögeln auf das Futterbrett zu streuen und zu beobachten, wie sie weggepickt werden.
Eine besondere Freude bringt es dem Kind, beim Backen von Weihnachtsgebäck mitzuhelfen. Da werden Sterne, Herzen, Vögelchen, kleine Sonnen und Monde und andere schöne Formen aus dem flach gewalzten, mit Mehl überstäubten Teig herausgestochen oder nach eigener Phantasie geformt. Dann werden die Figuren in schönen, wohlgeordneten Reihen auf ein Blech gelegt und in den Ofen geschoben. Durch die durchsichtige Tür kann das Kind beobachten, wie die Formen leicht aufquellen und ihre gelbe oder bräunliche Farbe bekommen. Es beginnt ein wohlriechender Duft zu entströmen, bis man die Türe öffnet und das fertige Gebäck herausnimmt. Mit leichter Ungeduld wird die Abkühlung erwartet, bis die Mutter gestattet, endlich etwas davon in den Mund zu stecken und seinen herrlichen Geschmack zu kosten.
Aber auch für weniger ansprechende Geschäfte wie Geschirrspülen, Abtrocknen und Putzen ist das Kind zu haben, wenn verstanden wird, sein Tun innerlich und äußerlich zu begleiten und seinen Nachahmungstrieb verständnisvoll auf kleine Verrichtungen zu lenken. So wird der verödenden Langeweile entgegengewirkt und der kindliche Betätigungsdrang in gesunde Bahnen gelenkt.
Auch außerhalb der Küche lassen sich Gelegenheiten finden, die Arbeit ins Leben des Kindes zurückzuführen. Sie hilft ihm, sich selber entschiedener zu ergreifen, zu lenken, zu beherrschen und auch schon ein wenig zu überwinden. Es kommen Ordnung und eine gewisse Straffung in sein leibliches und seelisches Gefüge hinein, die der heute so sehr verbreiteten Verhaltensgestörtheit, Verwöhnung und Begehrlichkeit entgegen wirken.
Die Kostbarkeit der Arbeit als Erziehungsmittel müsste von unserer Konsumgesellschaft neu wahrgenommen werden. Es gibt nichts Verderblicheres für ein heranwachsendes Kind, als nur zu konsumieren und selbst das Spiel und die Unterhaltung sich vom Bildschirm und vom Überfluss eines fragwürdigen Wohlstandes servieren zu lassen. Von Natur aus ist es nicht auf passives Genießen, sondern auf unermüdliches Tätigsein, auf aktives Erkunden der Umwelt veranlagt, in die es hineingeboren wird.
Schon früh beginnt sich im Kind innerhalb seiner Umwelterlebnisse ein Bedürfnis zu regen, dem das bloße Nachahmen nicht mehr genügt. Es will nicht nur äußerlich nachahmen, sondern aus seinen Phantasiekräften heraus in immer neuem Gestalten und Umgestalten das Nachgeahmte verwandeln, mit seinen eigenen kreativen Kräften durchdringen im Sinne des Goethewortes: «Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.» Durch diese sein Spiel bewegenden Kräfte wirkt das Kind aus seinem individuellen Wesenskern heraus und ist gleichzeitig mit einem allgemein Gültigen verbunden.
Daraus wird verständlich, warum Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung sagen konnte: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, und er spielt nur da, wo er in der vollen Bedeutung des Wortes Mensch ist«, das heißt: Er lebt nur da ganz im Sinne seiner Bestimmung, wo er das, was von außen an ihn herankommt, mit seiner aus inneren Tiefen stammenden Gestaltungskraft so verwandelt, dass zwischen außen und innen, zwischen Mensch und Welt, zwischen Stoff und Form eine Übereinstimmung, eine Harmonie, eine Einheit entsteht.
Eine große Faszination empfindet das Kind den vier Elementen gegenüber, von denen es mit einer geradezu magischen Kraft angezogen wird[2]. Da ist das Wasser, dessen Reiz sich Kinder fast nicht zu entziehen vermögen. Wenn sie beim Spritzen und Platschen flotschnass werden, wird die Kälte kaum wahrgenommen. Eine besondere Lust bereitet das Wasser, wenn es sich zu Schnee oder Eis verdichtet. Ebenso beeindruckend ist das Erleben der Erde, wenn sie als Schlamm, Lehm oder Sand erfahren wird. Der Sandhaufen, wo Berge, Höhlen, Tunnel gebaut, Kanäle angelegt, Kuchen und Torten geformt werden, übt eine immer neue Anziehungskraft aus:
«Das Schönste für Kinder ist Sand, ihn gibt's immer reichlich, er rinnt unvergleichlich
zärtlich durch die Hand.» (Ringelnatz)
Die Luft wird mit langsam und schneller sich drehenden Windrädchen, mit schwebenden Seifenblasen, fliegenden Papiervögeln und steigenden Drachen erlebt. Besonders zart wird das durch die Luft sich bewegende Schweben empfunden, wenn das Kind in die helle Lampe einer Löwenzahnblüte bläst und die winzigen Samen mit ihren weißen Fähnchen weggetragen werden. Der faszinierendste und auch gefährlichste Spielgefährte unter den Elementen
ist das Feuer. Deshalb darf nur behutsamer und gefahrloser Umgang mit ihm gestattet werden. Das beginnt mit der Freude am Licht der Geburtstags- und Weihnachtskerzen. Auch das Tragen eines herbstlichen Rebenlichtes und das Leuchten der Fackeln im Kinderumzug am Abend des Martinstages gehören zu den unvergesslichen Erinnerungen an die Kindheit. Später bieten die Feuerstellen auf Weiden und in Waldlichtungen eine schöne Gelegenheit, das unbändige Element zu erleben. Mit großem Eifer wird von den Kindern das nötige Holz gesammelt und in Brand gesteckt. Sie erleben das aufflackernde Feuer, die lodernde Flamme und die verglimmende Glut. Gleichzeitig wird eine Suppe gekocht, am selbstgeschnitzten Spieß ein Würstchen oder Apfel gebraten, damit auch der Magen auf seine Rechnung kommt.
Die Bedeutung des Spiels zur Entfaltung der kindlichen Individualität und zur späteren Lebensgestaltung wird nicht genügend wahrgenommen. Mit einer Kindheitserinnerung aus vergangenen Zeiten sei auf die bildenden Wirkungen eines leider heute nicht mehr möglichen Spiels hingewiesen: Vor fünfzig und mehr Jahren, als die Straßen zum Teil noch Spielplätze waren, gab es das Spiel mit dem Reifen. Dieser bestand aus einer ausgedienten Fahrradfelge. Wenn man es sich leisten konnte, wurde ein Reifen aus Holz gekauft, zu dem man schon der fröhlichen Farben wegen eine große Sympathie empfand. Während Wochen oder sogar Monaten wurde man von seinem Reifen zur Schule, zum Bäcker, zum Krämer, ja auf all seinen Wegen begleitet. Man ließ ihn neben sich einher rollen, indem man ihm in angemessenen Abständen mit einem Holzstab einen antreibenden Schlag versetzte. Dabei musste man aufpassen, dass der rollende Begleiter nicht aus der Senkrechten fiel. Besonders in den Kurven bestand die Gefahr des Kippens.
Um es zu verhindern, musste der Reifen an heiklen Stellen mit dem Holzstab gelenkt werden. Er durfte unter keinen Umständen hinfallen. Das wäre ein Unglück gewesen, weil man sich im Stillen gelobt hatte, ihn ohne Missgeschick ans Ziel zu bringen. Was dieses Spiel mit dem Reifen im Hinblick auf unvorhergesehene Hindernisse für eine Sorgfalt und Geschicklichkeit erforderte, ist kaum zu beschreiben. Aber das aufmerksame Lenken eines in der Senkrechten dahinrollenden Kreises hat eine tief in das Verhalten eingreifende Wirkung gehabt, die sich weit in die Zukunft hinein fortsetzte und erst in späteren Jahren eine für das Leben geradezu sinnbildliche Bedeutung bekommen hat.
Vielleicht könnten solche Kinderspiele in den Fußgänger- und Grünzonen unserer Städte wieder aufleben - zum Wohl der Kinder.
Eine tief in das Leben des Kindes eingreifende Bedeutung kommt auch der Arbeit zu, die es nach dem Schuleintritt in den verschiedenen
Fächern zu leisten hat. In ihr sollte dieselbe Kraft zur Entfaltung gelangen, die auch im Spiel lebt. Die hohe Bedeutung, die ihm von Schiller zugedacht wird, überzeugt auch dadurch, dass zum Beispiel die Musik als ein Spiel bezeichnet wird und auch der Schauspieler seine Kunst als ein Spiel versteht.
Von da aus ist die Forderung nach künstlerischer Gestaltung des Unterrichts zu verstehen. Es handelt sich um das Bestreben, den Stoff durch die Form zu überwinden, mit den in den Dingen wirkenden Kräften verbunden zu sein und sie auch im Lernen durchleuchten zu lassen. In diesem Sinne fordert Rudolf Steiner, «dass wir alle die Unterrichtsgegenstände so treiben, dass das Kind überall fühlt, das Körperliche ist die Offenbarung eines Geistigen.»[3] Das Lernen darf nicht eine bloß äußerlich betrachtende, nur aus dem Verstand heraus wirkende Tätigkeit sein. Es muss ein Gestaltungsprozess werden, der aus jenem inneren Zentrum heraus wirkt, das auch dem Spiel seine kreativen Kräfte verleiht. Damit ist nicht das fragwürdige «spielerische Lernen» gemeint. Das Lernen darf sich nicht in ein Spiel verwandeln, sondern die Kräfte, die in dem mit vollem Ernst gespielten Spiel wirken, sollen auch zum Fundament des Lernens werden.
[1] R. Steiner, GA 301, 1920