Dieses Buch wurde verfasst von Werklehrern, die in der Praxis des Schulunterrichts stehen oder standen und seit vielen Jahren in den verschiedenen Bereichen des künstlerisch-handwerklichen Unterrichts der Waldorfschulen arbeiten. Sie berichten das, was sie in der Werkstatt mit den Schulkindern erlebt haben. Ihre Berichte enthalten demnach die Ergebnisse ihrer pädagogischen und sachlichen Erfahrungen, ihre fachlichen Zielsetzungen, sind aber auch Ausdruck ihrer individuellen Eigenarten. Das muss so sein, denn der Erzieher an der Waldorfschule kann und soll aus dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit heraus tätig sein. So wird jeder Lehrer seinen Weg zu einer Erziehungskunst suchen. Wie verschieden diese Wege der einzelnen auch sein mögen, so gemeinsam ist ihr pädagogisches Anliegen, das sie in den Dienst der von Rudolf Steiner initiierten Erziehungsaufgabe gestellt haben. Diese Gemeinsamkeit bot die Grundlage für das hier vorliegende Werk.
Wie hätte es von einem Einzelnen geleistet werden können? Ein solcher müsste jahrzehntelang lernen, um all das fachlich zu beherrschen, was im künstlerisch-handwerklichen Unterricht einer Waldorfschule von ihm gefordert wird. So muss der Schreinermeister tatsächlich das Töpfern oder Schmieden dazulernen, wenn es an seiner Schule verlangt wird, oder der ausgebildete Plastiker muss sich sachliche Kompetenz für das Schreinern erwerben, wenn es notwendig ist. Trotzdem wird er sich in seinem speziellen Fachgebiet in der Regel sicherer fühlen und dort auch leichter eine gewisse Meisterschaft in der pädagogischen Handhabe erringen. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es als sinnvoll, wenn sich viele Fachleute um die Aufgabe bemühen, ein Bild von der Vielfalt der künstlerisch-handwerklichen Arbeit an den Waldorfschulen zu entwerfen. Das ist hier geschehen.
Über den mannigfaltigen Differenzierungen in künstlerische und handwerkliche Bereiche steht die pädagogische Aufgabe. Es ist zu erfragen, warum gerade dieses oder jenes Fach in einer bestimmten Jahrgangsstufe zu unterrichten ist, welche Ziele angestrebt werden. Das ist das, was den Werklehrer auch mit allen anderen Lehrern seiner Schule verbindet. Es genügt nicht, wenn das Kind beim Werken Freude an der Arbeit findet; es muss klar sein, welche Entwicklungsschritte mit dem Werken gefördert werden können und wie das Kind seiner Entwicklungsstufe entsprechend angesprochen werden muss.
Für all diese Fragen gibt es kein Lehrbuch, kein Nachschlagewerk. Aber es gibt die Menschenkunde aus der Geisteswissenschaft R. Steiners, die in einer Reihe von Vortragskursen und Schriften vorliegt. Sie befasst sich mit dem Kern aller pädagogischen Bemühungen: dem Menschen. Das Eintauchen in diese Menschenkunde, ihre Anwendung im täglichen Unterrichtsgeschehen, ihre Bestätigung in der Schulpraxis ergeben eine Fülle weitreichender Erkenntnisse, auf die alle Maßnahmen einer Waldorfschule aufgebaut sind.
Die Arbeit an dem pädagogischen Werk R. Steiners geschieht in den wöchentlichen Konferenzen und vielen Arbeitskreisen der Fachlehrer. Auch die Werklehrer kommen seit vielen Jahren zusammen, um die Anregungen und Darlegungen R. Steiners für ihre Fachgebiete fruchtbar zu machen; sie tauschen im «Werkstattgespräch», das jährlich in einer anderen Schule stattfindet, ihre Erfahrungen praktisch und theoretisch aus. Ihre Bemühungen haben letztlich in diesem Buch Ausdruck gefunden. Es sind Anregungen, um unentwegt weiterzuschaffen, umzuwandeln, Neues zu entdecken; Beispiele, die nicht den Anspruch erheben, allgemeingültig oder endgültig zu sein.
Es ist zu hoffen, dass dieses Buch demjenigen den Einstieg in den Unterricht erleichtern kann, der seine Arbeit neu beginnt. Er mag auf Bewährtes aufbauen und daran den Mut entwickeln, sich seinen eigenen Weg zu suchen. Allein durch eigene Schöpferkraft ist die Gewähr gegeben für das Gelingen pädagogischer Vorhaben; das nur Überlieferte, Abgeschaute zündet nicht den Funken, der vom Lehrer zum Kind überspringen muss.
Jedes Ideal wird sich, sobald es in die Sphäre der notwendigen Realisierbarkeit auf der Erde eintritt, verwandeln müssen, um nicht in einem gut ausgedachten, aber abstrakten Himmel hängenzubleiben. Das gilt besonders für Schemata, die eine Art Denkgerüst geben und dadurch zur Klarheit beitragen können. Aber es sind eben Strukturen, die wieder in das Leben übersetzt werden müssen! Die feinfühlige Beobachtung des Lehrers an den Kindern und pädagogischen Vorhaben kann niemals durch ein Schema ersetzt werden, so gut es auch sein mag.
Hier muss gelten, was eine erfahrene Lehrerin der ersten Waldorfschule in Stuttgart ausgesprochen hat:
«So hat sich ein Lehrplan herausgebildet, dem vor allen Dingen alles Programmatische und Dogmatische ferngeblieben ist. Auch das, was im Folgenden über die Verteilung des Lehrstoffs auf die einzelnen Klassen ausgeführt ist, sollte daher nicht dogmatisch, nicht als starres Gesetz genommen werden. Der ideale Lehrplan muss das sich wandelnde Bild der werdenden Menschennatur auf ihren verschiedenen Altersstufen nachzeichnen, aber wie jedes Ideal steht er der vollen Wirklichkeit des Lebens gegenüber und muss sich dieser einfügen.»[1]
Unser herzlicher Dank gilt allen, die mitgeholfen haben an der Entstehung dieses gemeinschaftlichen Werkes. Aber auch allen, die es mit Interesse und Geduld lesen werden.
Nürnberg, im Sommer 1990 Michael Martin
[1] C. v.Heydebrand, Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule