von RAINER LECHLER (in: Michael Martin Hg., Der künstlerisch-handwerkliche Unterricht in der Waldorfschule, Stuttgart: 1991, S. 261- 266)
Michelangelo hat gesagt, dass das Wesen des Steinbildhauens eine «schwierige Kunst des Wegnehmens von Material ist, ohne eine Möglichkeit, wieder etwas hinzuzufügen». Zwar verfügen wir heute über hervorragende Steinklebestoffe, die auch größere Korrekturen erlauben. Aber es ist für das Bewusstsein des in Stein Arbeitenden von entscheidender Bedeutung, wenn sein Werk ohne ein notwendig gewordenes Wiederanfügen von Material gelungen ist.

Wer sich allerdings auf diesen Entstehungsweg einlässt, muss in Kauf nehmen, das Konzept seiner Arbeit gegebenenfalls ändern zu müssen, dann nämlich, wenn an entscheidender Stelle Material unvorhergesehen abspringt. An der oben zitierten Regel kommt niemand vorbei, der sich künstlerisch-handwerklich mit dem Stein auseinandersetzen will.
Betrachtet man diese Arbeitsweise genauer, so zeigt sich, dass nur dann ein Werk entstehen und gelingen kann, wenn der Steinhauer in jedem Augenblick seines Schaffens seine ganze Konzentration auf die Meißelspitze gerichtet hält. In möglichst kurzer Zeit, nach wenigen Schlägen schon, muss er herausgefunden haben, welches die geeignete Schlagrichtung ist, wie die Schichtungen im Stein geordnet sind, wie sich der Stein parallel zu diesen Schichtungen oder quer dazu bearbeiten lässt. Das erfordert ein hohes Maß an Geistesgegenwart und Bewusstheit und lässt sich zu einer genauen Kenntnis, d.h. einem reichen Erfahrungsschatz nur durch viel Übung ausbauen. Der Stein nämlich - und jede Gesteinsart in anderer Weise - reagiert auf den Meißel unmittelbar. Das grobe «Anschlagen» einer Form ist davon ebenso betroffen wie das vorsichtige Herausschälen der «Haut», die Arbeit mit dem Spitzmeißel genauso wie die mit Zahn- oder Flachmeißel.
Wie aber kann dies einem Schüler gelingen, der ja die handwerkliche Ausbildung für diese «Kunst» nicht besitzt? Man kann immer wieder die Beobachtung machen, dass Waldorfschüler durch die jahrelang geübte handwerkliche Tätigkeit durchaus eine wichtige Voraussetzung für das Steinhauen mitbringen: die Fähigkeit nämlich, vorauszusehen, d.h. sich ein Bild davon machen zu können, welche Konsequenz der jetzt einsetzende Arbeitsschritt nach sich zieht. Die Arbeit am Stein bedarf in jedem Augenblick dieser Fähigkeit, und gerade hierin liegt ihre eigentliche Wirkung: sie diszipliniert und konzentriert durch sich selbst.
Dazu kommt, dass das Steinhauen eine so neuartige Erfahrung für jeden Schüler ist, dass er - so meine Beobachtung - mit großer Vorsicht, ja sogar mit einer gewissen Ehrfurcht vor dem Stein ans Werk geht.
Diese beiden Aspekte mögen genügen, um zu zeigen, welche pädagogische Bedeutung der Steinbearbeitung beigemessen werden muss. Beide Gesichtspunkte machen deutlich, dass dem Schüler mit dieser Tätigkeit ein Mittel in die Hand gegeben ist, sich selbst zu erziehen. Damit wird klar, dass das Arbeiten am Stein erst in Frage kommt, wenn der Schüler die obersten Oberstufenklassen erreicht hat.
Allerdings kann Steinbearbeitung zunächst auch als rein handwerkliche Tätigkeit verstanden werden. Dann hat sie ihre Berechtigung durchaus schon in der 10. Klasse. Die 10. Klasse ist ja wie keine Altersstufe sonst unter das Motto des Handwerkens gestellt. So kann in dieser Altersstufe die Aufgabe lauten: «Fertige an einem Bruchstein eine Standfuge an».
Nun muss sich der Schüler vertraut machen mit den typischen Steinmetzarbeiten, denn aus einer gebrochenen soll eine planebene Fläche werden.
Welches ist die tiefliegendste Stelle, nach der ja die Standfuge eingerichtet werden muss? An welche Seite wird der erste Kantenschlag angelegt? Wie übertrage ich die jetzt gewonnene Kante auf die anderen Seiten des Bruchsteines, so dass eine ebene Fläche entstehen kann? Wie komme ich von den Kantenschlägen ringsum am Stein zu der Fläche, wie entferne ich den «Bossen» (die in der Mitte verbliebene Erhöhung)? Was ist zu berücksichtigen, damit die Kanten nicht höher liegen als die eingeschlossene Fläche?
Neben dem Einsatz der drei klassischen Meißelarten Spitz-, Zahn- und Flachmeißel (-eisen) kommt hier auch das Setzeisen und das Scharriereisen in Gebrauch. Eine erste in sich abgeschlossene Steinmetzarbeit ist zu vollbringen. Hierbei sammelt der Schüler seine ersten Erfahrungen und beginnt, Kenntnisse über «seinen Stein», die Gesteinsart, die Härte, das Gefüge, die vorherrschende Lagerung der Schichten usw. zu erwerben. Da eine Standfuge keine Sichtfläche ist, darf diese, den Fähigkeiten des Schülers entsprechend, auch einmal weniger exakt ausfallen. Der mit einer Standfuge versehene Stein kann anschließend z.B. zu einer Tiergestalt weitergehauen werden.

In einer völlig neuen, ganz auf den Stein bezogenen Weise geht der Schüler diese Aufgabe an. In der 9. Klasse hat er Tiergestalten aus Ton plastiziert, wobei er die typischen Wesensmerkmale des jeweiligen Tieres herausarbeiten sollte. Jetzt wäre dem Zehntklässler dieses Plastizieren nicht mehr entsprechend. Über den Umweg «Stein» bekommt er ein völlig neues auch als rein handwerkliche Tätigkeit verstanden werden. Dann hat sie ihre Berechtigung durchaus schon in der 10. Klasse. Die 10. Klasse ist ja wie keine Altersstufe sonst unter das Motto des Handwerkens gestellt. So kann in dieser Altersstufe die Aufgabe lauten: «Fertige an einem Bruchstein eine Standfuge an».
Nun muss sich der Schüler vertraut machen mit den typischen Steinmetzarbeiten, denn aus einer gebrochenen soll eine planebene Fläche werden.
Welches ist die tiefliegendste Stelle, nach der ja die Standfuge eingerichtet werden muss? An welche Seite wird der erste Kantenschlag angelegt? Wie übertrage ich die jetzt gewonnene Kante auf die anderen Seiten des Bruchsteines, so dass eine ebene Fläche entstehen kann? Wie komme ich von den Kantenschlägen ringsum am Stein zu der Fläche, wie entferne ich den «Bossen» (die in der Mitte verbliebene Erhöhung)? Was ist zu berücksichtigen, damit die Kanten nicht höher liegen als die eingeschlossene Fläche?
Neben dem Einsatz der drei klassischen Meißelarten Spitz-, Zahn- und Flachmeißel (-eisen) kommt hier auch das Setzeisen und das Scharriereisen in Gebrauch. Eine erste in sich abgeschlossene Steinmetzarbeit ist zu vollbringen. Hierbei sammelt der Schüler seine ersten Erfahrungen und beginnt, Kenntnisse über «seinen Stein», die Gesteinsart, die Härte, das Gefüge, die vorherrschende Lagerung der Schichten usw. zu erwerben. Da eine Standfuge keine Sichtfläche ist, darf diese, den Fähigkeiten des Schülers entsprechend, auch einmal weniger exakt ausfallen. Der mit einer Standfuge versehene Stein kann anschließend z.B. zu einer Tiergestalt weitergehauen werden.
In einer völlig neuen, ganz auf den Stein bezogenen Weise geht der Schüler diese Aufgabe an. In der 9. Klasse hat er Tiergestalten aus Ton plastiziert, wobei er die typischen Wesensmerkmale des jeweiligen Tieres herausarbeiten sollte. Jetzt wäre dem Zehntklässler dieses Plastizieren nicht mehr entsprechend. Über den Umweg «Stein» bekommt er ein völlig neues Verhältnis zu dieser Aufgabe. Er begeistert sich an der sich langsam aus dem Stein herausschälenden Tiergestalt und vermag durch diese Begeisterung das Material zu beleben. Die Tierformen steigen wie erlöst aus dem Werkstoff herauf, sie lassen alle Schwere hinter sich und treten wie «verwundert» ans Tageslicht. Die Unmittelbarkeit der äußeren Erscheinung «gelingt» einerseits durch die in dieser Altersstufe noch mangelnde Möglichkeit, eine Tierform anatomisch richtig zu sehen und wiederzugeben, und andererseits durch die liebevolle Hingabe des Schülers an die jetzt geübte neuartige Tätigkeit. So führt die zunächst rein handwerkliche Betätigung in eine neue künstlerische Auseinandersetzung hinein.
In einer 12. Klasse geht der Schüler, auch wenn er vorher in der 10. Klasse noch nicht in Stein gearbeitet hatte, völlig anders ans Werk. Die erste Aufgabe, der er sich stellen muss, lautet: «Gestaltung eines Kopfes». Zwar haben alle Schüler in der 11. Klasse einen Kopf in Ton plastiziert und zunächst auch hier die entsprechenden Gesetzmäßigkeiten erübt (Proportionen usw.), die Umsetzung in Stein aber bedeutet neben dem notwendigen handwerklichen «Griff» eine ganz andersartige Auseinandersetzung mit der Aufgabe! Der Kopf in Ton wurde in additiver Weise aufgebaut, der Vorgang des Steinhauens ist aber ein rein subtraktiver.
Mit großer Bewusstheit müssen die Einzelformen für sich, die Wirkung der Einzelformen zueinander, die Wirkung des Ganzen vorher bedacht werden. Klare, dreidimensionale Raumvorstellung bestimmt vorausschauend die Gestaltung im Gegensatz zum Plastizieren, bei dem jede Formbildung aus dem unmittelbaren Anschauen heraus vorgenommen werden kann. Welche Ausgestaltung gebe ich einem blickenden Auge? Welche Volumina sind notwendig, wenn an die Ausformung der Mundpartie, der Kinnpartie gegangen werden muss? Welche Richtungen finden sich am Gesichtsschädel, welche am Hinterkopf, wie können diese zusammengeführt werden? Solche Überlegungen erregen ein intensives Interesse am eigenen Kopf oder dem Gesicht des Klassenkameraden, führen auch zu exakten Beobachtungen des Gegenübers in der Straßenbahn usw. Sie zeigen, dass neben formalen Gesichtspunkten rein künstlerische Gestaltungsfragen auftauchen.
Das notwendige Handwerkszeug, das Bearbeitenkönnen des Steines ist verhältnismäßig rasch erübt, und der Schüler kann die ihm persönlich gemäße Form des Schaffens an «seinem Stein» leicht finden, nämlich:
Bei der Meißelführung unterscheiden wir eine radiale und eine tangentiale Arbeitsweise. Ist die tangentiale Meißelführung geeignet, eine Form zügig aus dem Stein herauszuhauen, wobei man der jeweiligen Form, die da entstehen soll, mit dem Meißel folgt, so zeigt sich bei der radialen Arbeitsweise, dass über lange Zeiträume hinweg Veränderungen möglich sind. Der Meißel wird dabei stets auf den Mittelpunkt der entstehenden Form gerichtet geführt; der Meißel steht also in diesem Falle senkrecht auf der Form und darf nur wenig in den Werkstoff eindringen.
Bei der Arbeit mit tangentialer Meißelführung besteht die Gefahr, dass Verbesserungen schwerer möglich sind, weil die Einzelformen schneller und entschiedener in Erscheinung treten, bei radialer Meißelführung aber kann sich der Schüler in der Aufgabe zeitlich wie formal verlieren.

Die Schüler arbeiten in jedem Fall ohne Skizze oder Modell, d.h. die Köpfe entstehen - weder in Ton vorplastiziert noch als Zeichnung vorskizziert - aus der unmittelbaren Arbeit aus dem Stein heraus. Wenn der Schüler so vorgeht, ist es selbstverständlich, dass er den Entstehungsprozess, d.h. das Schaffen mit Meißel und Fäustel unausgesetzt wach mit seinem Bewusstsein begleitet. Dabei genügt es nicht, nur zu beobachten, was durch den eben geführten Schlag geschieht bzw. geschehen ist, es müssen darüber hinaus noch ein weit vorausplanendes Begutachten und ein klares Bild von dem, was entstehen soll, aktiviert werden. Indem das, was als Formen geschaffen wurde, mit dem inneren Bild dessen, was zukünftig erreicht werden soll, stetig miteinander verglichen wird und versucht wird, diese in Einklang zu bringen, vollzieht sich der eigentliche schöpferische Akt der Arbeit. Der in der Gegenwart geführte Schlag setzt sich immer in Beziehung zu dem, was geschaffen wurde, und dem, was geschaffen werden soll. Er ist der Weg zur Realisierung der Idee.
Nach dieser ersten Aufgabe kann der Schüler frei entscheiden, welcher Arbeit er sich nun unterziehen möchte. In der Regel greift er zu figürlichen Themen: Mutter mit Kind, Kniende, Schreitende, Sitzende, Athlet, weiblicher oder männlicher Torso usw. Die Wahl des nun zu bearbeitenden Gesteins ist dabei ebenfalls frei und reicht vom Buntsandstein über Muschelkalk, Travertin, Marmor bis hin zu Granit, Basalt, Syenit.
Da für eine Steinhauepoche in der 12. Klasse insgesamt ein halbes Jahr Zeit mit dreimal zwei Stunden pro Woche zur Verfügung steht, lassen sich neben der Anfangsaufgabe, die in etwa lebensgroß gearbeitet wird, auch größere Formate bewältigen. Und so können Figuren, Figurenpaare, Gruppen entstehen, die als künstlerische Aussage durchaus Gültigkeit haben - zeigen sie doch in anschaulicher Weise die intensive Hinwendung des Schülers an sein Werk.