MICHAEL MARTIN
Wer sich mit R. Steiners Forschung über die Entwicklungsstufen des Menschen befasst und aus pädagogischer Praxis Erfahrungen mit Kindern gesammelt hat, der wird verstehen, dass mit der Erdenreife ganz neue Impulse für die heran wachsenden Jugendlichen wirksam werden müssen, weil die Gliedmaßen in starker Entwicklung begriffen sind und jetzt ganz neu dem jungen Menschen als Helfer für seine Willensimpulse zur Verfügung stehen. Die Glieder strecken sich, die Hände wachsen und werden erdenfest, denn die Handwurzelknochen fügen sich allmählich dichter ineinander und bilden dadurch die Grundlage für «handfestes« Zupacken.[1] Diese Vorgänge fordern eindringlich die Betätigung der Glieder durch Arbeit.
Vorher lebt das Kind überwiegend in seinen Sinnesorganen, besonders im ersten Jahrsiebt. Es ist durch und durch Sinneswesen. Das Auge z.B. ahmt in seinem Inneren die ganze Umwelt nach, spiegelt sie zurück, bildet sie ab. Das Kleinkind nimmt die Umwelt wie ein Auge auf und ahmt nach, was ihm von außen entgegenkommt.[2] Die Sinne sind ebenso Organe der «Verinnerlichung», wie die Hände Organe der «Veräußerlichung» sind. Die Retina des Auges und die Handflächen haben in ihrer Gegensätzlichkeit viel Gemeinsames. Sie sind beide nach außen offene Organe. Beide nehmen auf, was ihnen entgegengebracht wird. Aber das Auge verinnerlicht das Aufgenommene weiter, während die Hand es durch die innere Eigen-Art des Menschen verwandelt und an die Außenwelt neugestaltet zurückgibt.
Die Kugelgestalt des Auges entspricht präzis der Funktion des Aufnehmens, der Verinnerlichung; die Form der Hand strahlt in ihrer Vielgliedrigkeit nach außen, was sie als Impuls von innen empfängt. Die Kugel charakterisiert das Abgeschlossensein einer nach innen gerichteten, der Strahl die Öffnung einer nach außen wirkenden Kraft. Wir könnten keine Arbeit leisten, wenn Arme und Hände kugelig wären. Die Hand wird zum Vermittler zwischen der Innenwelt des Menschen und der Außenwelt. Das kann sie nur, wenn sie zum ausführenden Organ einer eigenständigen seelischen Innenwelt wird. Und diese erwacht erst in der Reifezeit. Dadurch hängen das Erwachen der neuen Seelenkraft im Innern des Jugendlichen und die Entwicklung der Hand unmittelbar zusammen. Das kleine Kind wird von außen bestimmt; der Jugendliche sucht aus eigener innerer Kraft denjenigen, den er nachahmen will: dieser wird zum Vorbild, das er bewundert. Eine völlige Umwandlung hat stattgefunden. Auch der Meister, der sein Handwerk beherrscht, ist von vornherein ein Vorbild: Er kennt die Gesetze der Werkstoffe, die Handhabe der Werkzeuge, die Art der Arbeitsgänge, die zum Ziel einer Arbeit führen. Er gibt genau an, was zu tun ist, denn er weiß, wie man mit Erdendingen umgeht. Fügt der junge Mensch seine Tätigkeit in diese Regeln vertrauensvoll ein, so prägt er seinem neugebildeten Willensorganismus Formen ein, die seinem Handeln fortan Halt und Struktur geben: Er kann etwas, und das gibt ihm Sicherheit im Leben. Der richtig gezielte Hammerschlag beim Schmieden, der richtig geführte Stoß des Hobels, der richtige Druck der Hand beim Töpfern verbinden ihn mit dem Werkstoff, der ihm von außen gegeben ist; solches Tun wirkt gestaltend auf ihn selbst zurück und gibt der aufkeimenden Willenskraft zugleich die Stütze, die sie im Chaos der wogenden Gefühle und der noch unentschlossenen Zielrichtungen braucht.
Im Kopf kann sich Wissen über die Erde bilden; die Erfahrung der Erde selbst bleibt den Gliedern durch ihre Tätigkeit an der Erde mit all ihren Stoffen und Kräften überlassen. Was «augenscheinlich» ist, muss noch nicht real sein; der Augenschein kann trügen. «Tatsächlich» ist nur das, von dessen Realität man sich noch «umfassender», vielleicht durch Berühren, überzeugt hat. Wer richtig auf der Erde «Fuß fassen» will, muss tätig sein, sich regen und bewegen, kann nicht Zuschauer oder «Fern-Seher» bleiben wie der Kopf, der Distanz, Abstand und Ruhe braucht, um wahrzunehmen.
So ist das dritte Jahrsiebt, insbesondere die ausklingende Pubertät (9./10. Klasse), die Zeit der Arbeit. Es ist kein Zufall, dass von altersher die handwerkliche Lehre in diesem Lebensalter begann. Der sich vom Körper emanzipierende Wille erhält durch handwerkliche Arbeit Richtung, Festigkeit und Maß, damit er sich gesund entwickeln und in seelische Regsamkeit verwandeln kann.
In der 10. Klasse geht die Reifezeit zu Ende; der junge Mensch ist «angekommen». Der letzte Schwung aus der Mittelstufe, der zu Beginn der 9. Klasse noch deutlich nachklingt, hat sich verloren. Neue Kräfte regen sich, neue Orientierungen müssen gefunden, die Chancen eines Neubeginns genutzt werden. Auch das persönliche Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer muss neu gegriffen werden. Gewiss trauert mancher seinem kindlichen Verhältnis zu seinem Lehrer nach und wünscht, es nicht zu verändern. Und doch ist es richtig, wenn nun anstelle des vertraulichen «Du» das Achtung vor der Persönlichkeit des Jugendlichen erheischende «Sie» tritt. Auch das bedeutet eine Stärkung für den Schüler - wenn es der Lehrer versteht, ein andersartiges Vertrauensverhältnis zu ihm aufzubauen.
R. Steiner hat diese Nahtstelle zwischen der 9. und 10. Klasse den Lehrern nachdrücklich bewusst machen wollen. Als die 9. zur 10. Klasse aufstieg (Herbst 1921), sprach er in einem Lehrerkurs in Stuttgart wiederholt von «diesem wichtigen Moment», «dem großen Moment, wo man den Zugang finden soll zu den Kinderseelen in einem ganz bestimmten wichtigen Lebensalter». Er machte darauf aufmerksam, «dass wir ja in unserer Schule vor einer sehr bedeutungsvollen Aufgabe stehen, nämlich der, zu den eigentlichen Volksschulklassen die 10. Klasse hinzuzufügen.»3
«Es handelt sich darum, die ganze Pädagogik und die ganze Didaktik in ein elementares Gefühl zusammenzufassen, so daß Sie gewissermaßen in Ihrer Seele die ganze Schwere und Wucht der Aufgabe empfinden: Menschen hineinzustellen in diese Welt.»[3]
Diese Aufgabe wird jetzt notwendig, weil das subjektive Seelisch-Geistige sich in das objektive Physisch-Leibliche nun wirklich eingebettet hat, mit ihm zu einer echten Einheit verschmolzen ist. Bisher war dieses Verhältnis ein anderes, noch unverbindlicher, lockerer. Dieser Umschwung wird uns bei der Behandlung der handwerklichen Fächer noch ganz besonders beschäftigen. In der 9. Klasse waren manche Nachklänge aus einer «paradiesischen», aber zu überwindenden Kindheit abzulegen, während sich die 10. Klasse ganz den Elementen des Irdischen zuwendet.
Über dem gesamten Unterricht der Oberstufe steht die Zielrichtung: Jeder Unterricht soll Lebenskunde sein! In der Unter- und Mittelstufe handelt es sich darum, «dass den Anforderungen der Menschenwesenheit Genüge getan wird; dass wir also hygienisch, gesund erziehen und dass wir also den Unterricht in leiblicher, seelischer und geistiger Beziehung pflegen.»3 4 5 6 Die Unterrichtsinhalte haben die Aufgabe, sich einzuordnen in die Entwicklungsprozesse des Kindes.
In der Oberstufe wird das anders; da soll der junge Mensch in die Verhältnisse hineinwachsen, die das Leben mit sich bringt. Er soll seine Kräfte so entwickeln, «dass seine Arbeit für die Gesellschaft wie für das menschliche Leben etwas bedeuten kann.»3 Oft spricht R. Steiner dieses Thema an und nennt ganz konkrete Unterrichtsinhalte, wie Spinnen, Weben, Feldmessen, praktische Mechanik, Seifenfabrikation, Papierherstellung und vieles andere mehr.[4] Wesentlich sind als allgemeine Richtlinien die Ausführungen R. Steiners, die er 1923 in Ilkley (England) während eines Vortragskurses gegeben hat.[5] Er spricht davon, wie das Spiel des Kindes übergeführt werden solle in künstlerisches Gestalten, das ja immer am Spiel sich beteiligt. Dann soll dieses noch freie Gestalten ins Kunstgewerbliche sich fortsetzen, durch Herstellung einfacher Werkzeuge und Hausgeräte, die als Gebrauchsgerät schon eine größere Verbindlichkeit fordern. Hierbei mag er an Kochlöffel, Schalen, Leuchter u.a. gedacht haben, die ja damals in der Stuttgarter Schule auch angefertigt wurden. Diese mehr gegenständlich-nützliche Arbeit im Holz sollte dann ihre Steigerung finden in richtigen Tischler- und Schreinerarbeiten. Er bezeichnete das als «praktisches Gestalten». Damit ist ein klarer Weg gewiesen. Von anderen handwerklichen Techniken ist damals noch nicht gesprochen worden. Durch Max Wolffhügel, den R. Steiner 1920 als Werklehrer an die Schule berufen hatte[6], ist ein Lehrplan überliefert, der in Gesprächen mit R. Steiner sich entwickelt hat. Er beschreibt diesen in kurzen Zügen[7], aber es ist keine einzige Handwerksepoche der Oberstufe darin genannt, wohl aber die «plastische Gestaltung in Ton, Holz und Stein», von der man durch eine ganze Anzahl von Fotos einen guten Eindruck erhalten kann. Erst in einem späten Aufsatz von 1952[8]äußert er Gedanken zu den «plastischen Unterrichtsepochen der oberen Klassen» und erwähnt dabei: «Auch wurden auf seine [R. Steiners] Anregung ab 9. Klasse die ersten Anfänge rein schreinerisch-handwerklicher Tätigkeit gelehrt und bis zur Anfertigung kleiner Möbelstücke fortgeführt.»
R. Steiner ließ also einerseits sehr frei, auf der anderen Seite aber war er Meister in der Zuordnung bestimmter Unterrichtsinhalte zu den entsprechenden Altersstufen. Er wusste genau, wie wichtig z.B. das Buchbinden ist (12. Klasse), «besonders, wenn es im richtigen Lebensalter auftritt», «in einem bestimmten Zeitpunkte, der eben der Menschennatur abgelesen wird».[9] Ein andermal erwähnt er zum Feldmessen der 10. Klasse: «... ja, es ist ein ganz anderes für das ganze Leben, ob man mit dem 15. Jahr diese Dinge gemacht hat als Knabe, oder ob man sie erst mit neunzehn und zwanzig Jahren an den Menschen heranträgt. Mit neunzehn, zwanzig Jahren prägt es sich mehr als ein Äußerliches ein, als wenn man es im Alter von fünfzehn Jahren gemacht hat. Es wird so eins mit dem Menschengeist, daß man es wirklich ganz als persönliches Eigentum, nicht bloß als das Eigentum seines Berufes hat.»[10]
Es kommt also viel darauf an, dass wir für das richtige Handwerk auch die richtige zeitliche Zuordnung finden, wenn wir einen Weg aufzeigen wollen, der uns durch die Oberstufe führt und solchen Forderungen entspricht.
[1] F.A. Kipp, Die Evolution des Menschen. Siehe 3. Die Entwicklung der Hand und die Werkstoffe, S. 170
[2] R. Steiner, GA 212, 26.5.1922
[3] Alle Zitate aus GA 302,15. und 17.6.1921
[4] Fritz Koegel, «Zur Lebenskunde», Manuskriptdruck, Stuttgart
[5] R. Steiner, GA 307,17.8.1923
[6] siehe 1. Teil: «Das Lebensalter der Werkreife»
[7] «Pädagogisch-Künstlerisches aus der Freien Waldorfschule» 1925
[8] in «Erziehungskunst» Mai/Juni 1952
[9] R. Steiner, GA 306, 21.4.1923
[10] R. Steiner, GA 302,16.6.1921