LIESEL GUDRUN GIENAPP
Zu fällen einen schönen Baum
Braucht's eine halbe Stunde kaum.
Zu wachsen, bis man ihn bewundert,
Braucht er, bedenk es, ein Jahrhundert!
Vom 2.-14. Mai waren wir im Sauerland zu Gast bei Baron v. E, dem große Waldreviere gehören, die er zu hegen und zu pflegen hat. Es war keine gewöhnliche Klassenreise, sondern es ging darum, den Weg des Holzes, das uns im Alltag so vielfältig dient, bis zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen: Sägewerk - Holzeinschlag - Auslichtung - Aufzucht - Pflanzung - Keimung - Samenbildung. «Vom Wald zur Werkstatt», so könnte man das übergreifende Thema nennen.
In unserer von der Technik geprägten Welt ist vieles, dessen wir uns bedienen, für uns nicht mehr durchschaubar. Für die Kinder ist es selbstverständlich, dass ein Bügeleisen heiß wird, dass der Kühlschrank summt, das Telefon klingelt, der Taschenrechner funktioniert. Warum? Wodurch? Man weiß es nicht. Viel mehr, als wir es uns bewusst machen, sind wir von einer Zauberwelt umgeben, die wir, so lange sie funktioniert, zu beherrschen glauben, vor der wir aber oft ratlos und fremd stehen, wenn sie uns den Dienst versagt.
An unseren Kindern können wir vom Kleinkindalter an erleben, wie sie sich mit ihren Warum-Fragen in die Welt einzuleben suchen. Und im Beginn der Pubertät, der Reifezeit, nimmt dieses Fragen eine ganz neue Dringlichkeit an. Vom zwölften Lebensjahr an wachsen dem Menschen deutlich die Verstandeskräfte, die Urteilskräfte zu, die es ihm möglich machen, denkend die Welt zu erfassen. Es bereitet sich das Jugendalter vor, in dem der Heranwachsende die Welt, die ihn umgibt, auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüft, denn er will seine eigene Heimat in ihr finden, - den Platz, wo er hingehört, wo er gebraucht wird, wo sein ganz persönlicher Einsatz sich lohnt, wo er dazugehört. Darum ist es für dieses Lebensalter so wichtig, die Welt so zu erleben, dass man das Zutrauen gewinnen kann: Einsicht ist möglich, Zusammenhänge lassen sich erschließen.
Solche Lebenssicherheit kann niemals vom Kopf allein ausgehen, sondern sie muss den ganzen Menschen in seinem Fühlen bis in seinen Leib hinein ergreifen. Darum setzen wir als Pädagogen an dieser Stelle das Erleben und das eigene Tun mit ein.
Unsere Klassenfahrt hat das Ziel, an einem Beispiel, am Weg des Holzes vom Wald zur Werkstatt, solche Lebenssicherheit zu stärken. Und der Erfolg dieser Fahrt liegt nicht allein darin, ob unsere Schüler etwas «gelernt» oder ob sie die Reise «genossen» haben, sondern ob sie etwas erlebt haben, das - ihnen selbst noch ganz unbewusst - sie selbstsicherer ins Leben stellen kann, ob sie etwas durchlebt haben, das ihnen auf dem Grund ihrer Seele die Zuversicht stärkt: Ich kann die Zusammenhänge durchschauen, und mein Tun passt in die Welt.
Der Weg des Holzes vom Walde bis in unsere Schnitzwerkstatt gibt auf jeder Stufe die Möglichkeit für Kinder, den Ablauf nicht nur intellektuell zu durchschauen, sondern durch eigene Tätigkeit mit dem Herzen und allen Sinnen erfahren zu können. In diesem Alter der Vorpubertät sind die Kinder noch vorzugsweise gemüthaft mit der Welt verbunden, Freundschaft und Feindschaft sind wichtig, Lust und Unlust spielen eine große Rolle. Sie entwachsen der Kinderwelt, das Denken wird wacher, die Frage nach Realität deutlicher. Und viel kommt für das spätere Leben darauf an, auf welche Außenwelt der Heranwachsende jetzt trifft, welches Echo sie auf sein oft stürmisches Anklopfen gibt.
Der Forst als Lebensgemeinschaft, der Pflege durch den Menschen unterstellt, bildet einen Lebenszusammenhang, an dem der junge Mensch lernen kann, mit Lebendigem umzugehen. Wer Totes, Mechanisches, Materielles erforscht, muß herauslösen; wer Lebendiges verstehen und pflegen will, muss Ganzheiten aufsuchen, Beziehungen bemerken und berücksichtigen. Wenn der Förster uns von den vielfältigen Funktionen des Waldes erzählt - von der Erfrischung der Luft, der Wasserhaltung, der Bedeutung der Vögel, dem Leben des Rehwilds -, wird das Denken unserer Kinder angeleitet, den beziehungsreichen Umkreis des Lebendigen zu erfassen; Voraussetzung für das, was heute als ökologisches Denken gefordert wird.
Nun gibt aber eine solche Forstepoche über das Erzählen hinaus die Möglichkeit, selbst eingreifen zu dürfen; sie gibt Nahrung nicht allein dem Denken, sondern auch dem Gefühl und dem Willen; das ist etwas, was dem Bedürfnis dieses Alters ausgesprochen entgegenkommt! Meine erste Werkstunde in einer 6. Klasse begann ich mit den Worten: Keiner ist zu klein, ein Helfer zu sein, - und noch ehe ich zu weiteren Erklärungen ansetzen konnte, kam es von Florian lebhaft zurück: Ja, das ist wirklich wahr, die Erwachsenen trauen uns nichts zu! Als bei uns die Brücke gebaut wurde, habe ich so gern zugesehen; aber die Arbeiter haben mich immer weggejagt. Bloß einmal, da hat mir einer einen Besen gegeben und hat gesagt, ich soll mal den Sand wegfegen. Das hat Spaß gemacht!
Was spricht aus dieser impulsiven Äußerung? Arbeit macht Freude - nütze zu sein stärkt mich - man möchte dazugehören, Teil sein einer Gruppe - man will einbezogen sein mit seinem Tun in einen Sinnzusammenhang. Darin deutet sich der Übergang vom Spiel zur Arbeit an.
Es gehört zu den Aufgaben der Schule, den Entwicklungsschritt des Menschen an dieser Schwelle, der für sein ganzes weiteres Leben so bestimmend sein kann, mit aller pädagogischen Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu begleiten. Eine Verwirklichung dieser Aufgabe ist die Fahrt der 7. Klasse für zwei Wochen in den Wald, um dem Förster zu helfen.
Nach verschiedenen Erfahrungen haben wir uns entschlossen, gerade die 7. Klasse in die Waldepoche zu nehmen. Die Kinder sind 13 Jahre alt und schicken sich an, ins Jugendalter weiterzuschreiten. Noch sind sie nicht von der Faszination ihrer Eigenwelt ergriffen und haben doch schon Verstand und Körperkraft genug, in der Außenwelt sinnvoll mitzuschaffen. Sie stehen auf der Schwelle und sind dadurch noch offen für den Zauber der elementarischen Welt. Der Wald spricht noch anders zu ihnen als nur von seinem Nutzwert her. Bald schließt sich das Tor hinter ihnen - für einen Achtklässler sieht die Welt schon ganz anders aus.
Vieles gibt es im Forst zu tun. Wie aber müssen die Aufgaben aussehen, die im genannten Sinne pädagogisch fruchtbar sind?
Sinnvoll müssen sie sein! Das heißt so ausgegrenzt, dass der Sinn den Kindern unmittelbar einleuchten kann, dass sie vollkommen von dem Gefühl durchdrungen sein können: Mein Einsatz ist notwendig; es lohnt sich.
Und genügend Spiel-Raum müssen die Aufgaben den Kindern lassen, denn die Kraft der Selbstüberwindung aus Pflichterfüllung soll ja erst langsam geboren werden. Im Spiel ahmt das kleine Kind Arbeiten der Erwachsenen nach, aber es geht ihm dabei nur erst um das Tätigsein, nicht um das Ergebnis. Beginn und Ende des Spiels entstehen aus innerem Antrieb, aus Lust an diesem oder jenem Tun.
In der Arbeit später treten die Anforderungen von außen an den Menschen heran. Findet man für den Übergang Aufgaben, in denen beides ineinanderwebt, die die Pflicht schon spüren lassen, in denen Verantwortung schon anklingt und die doch genügend Offenheiten haben, um Spielerisches zuzulassen?
Auch die stärkende Wirkung der Gemeinsamkeit muss an den Aufgaben erlebt werden können. Wie alles sich zum Ganzen webt - Kraft und Zartheit, Mut und Besonnenheit, rasches Tun und klares Planen, Eifer und Geduld, Heiterkeit und Ernst. Die Sache kommt voran, wenn jeder sein Bestes gibt!
Der Forst bietet viele Möglichkeiten, die Kinder in diesem Sinne anzusprechen. Hier ein paar Beispiele, aus der Fülle herausgegriffen:
So gibt es an jedem Morgen neue Aufträge; und in kleinen Trupps machen sich die Schüler auf den Weg, meist von einem Erwachsenen begleitet. Und was gibt es da alles neben der Arbeit, nein, durch die Arbeit zu erleben! Denn ein Wald, an dessen Pflege ich durch mein Tun beteiligt bin, «mein Wald» spricht ja ganz anders zu mir als zu einem Spaziergänger.
Wind, Nebel, Wärme, Regen - die Witterung bedeutet viel für den, der da draußen seine Arbeit hat. Und was an Stimmungen in der Natur lebt, teilt sich unmittelbar dem ganzen Wesen der Kinder mit, durchtränkt sie sozusagen in ihrer eigenen Seelenstimmung: Der zarte Frühnebel über der Wiese, leiser Nieselregen, ein Hagelschauer, wolkenreiner Sommerhimmel, der frische Wind. Und noch ganz anderes gibt es da zu erleben: Ein Raubvogel kreist in der Höhe; ein Reh bleibt stehen und äugt zuerst zutraulich zu uns herüber, dann flüchtet es in hohen Sprüngen; im Teich finden wir Froschlaich; die Pferde in der Koppel kommen an den Zaun und lassen sich streicheln.
Die Gefahr des Jugendalters, dass die neu erwachenden Kräfte sich isolieren, dass die aufblitzende Intelligenz einer kalten Intellektualität zustrebt, dass nach der anderen Seite der Schub der körperlichen Reife in Stumpfheit den Menschen seinen Trieben ausliefert - dieser Gefahr setzen wir überall dort etwas entgegen, wo das Handeln vom Fühlen und Denken gelenkt, das Denken im Fühlen und Tun gegründet wird. Unser Ziel ist es, durch intensive Erlebnisse den ganzen jungen Menschen zu ergreifen und zu befeuern. Denn in diesem inneren Ergreifen ist er gleichermaßen vor Intellektualität wie vor Brutalität geschützt und kann für sein Leben lernen, aus seiner Mitte heraus Besinnen und Schaffen in gesunder und lebenstüchtiger Weise miteinander zu verbinden.
Unsere Waldarbeit bindet unentwegt Denken, Fühlen und Handeln zusammen: Wer blindlings schafft, erschwert sich vieles; wer nur überlegt und plant und berechnet, bringt nichts zuwege; wer nur den Duft und die Sonne genießt, verträumt die Zeit.
Wenn aber die Fichte gefällt werden soll, ist es notwendig, zuvor die Fallrichtung zu bestimmen: Nach welcher Seite ist das Kronengewicht am größten? Wo geben die übrigen Bäume eine Schneise frei? Wie muss der Baum fallen, damit er die Nachbarn nicht beschädigt? Man diskutiert, man fachsimpelt hin und her, bis man sich einig wird. Und nun ans Werk! Der gezielte Schlag mit dem Beil lässt den Baum bis zum Wipfel erbeben. Schlag um Schlag - dann der Sägeschnitt zu zweit. Jetzt neigt sich der Baum, zuerst ganz sacht, dann deutlich spürbar, dann rauscht er zu Boden.
Unter lautem Hallo wird das Geäst aus dem Bach gezogen, und dabei ist der Überblick, das «gewusst wie» ebenso entscheidend wie die Körperkraft.
Planen, Handeln, Erleben sind in solcher Tätigkeit innig miteinander verbunden. An den anderen Arbeitsplätzen findet man ein ähnliches Zusammenspiel von Erlebnis, Bedenken und Tätigsein: Auf dem Kahlschlag lodert das Reisigfeuer und muss bewacht und genährt werden.
Außerordentlich verschieden stellen die Schüler selbst sich in dieses Abenteuer hinein und geben dem Lehrer Gelegenheit, die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedenen Temperamente und ihr Zusammenspiel zu beobachten:
Die Sanguiniker sind überall voran, haben schon den Bienenstand entdeckt und die Wildfütterung, sind rasch Freund mit den Waldarbeitern, planschen in der Pause im Bach, und zur Weiterarbeit muss man sie erst wieder rufen. - Die Choleriker greifen am liebsten zum Beil! Wenn die Späne fliegen, fühlen sie sich stark. «Wieviel habt ihr heute geschafft?» So möchten sie sich mit den anderen messen. - Die Phlegmatiker sind die Planer, die Strategen; sie suchen mit der geringsten Anstrengung ihren Erfolg und kommen damit manchmal weiter als die großen Schaffer. - Den Melancholikern vertraut man gern das Aufasten an, es verlangt nicht so sehr die körperliche Stärke, sondern liebevolle Sorgfalt und Genauigkeit, damit der Baum in seiner Wachstumsschicht nicht verletzt wird.
Manch einer arbeitet am liebsten allein. Da kann er sich die Sache selbst einteilen, ist sein eigener Herr und kann später vorweisen, was er geschafft hat. Andere - und das sind die meisten - suchen die Geselligkeit. Gemeinsam schafft sich's leichter, schneller; und die flotten Reden, die da umlaufen, machen die Arbeit flüssiger. Aber nicht immer fördert die Gemeinsamkeit die Arbeit - es können ebenso gut Reibungen entstehen, die erheblich bremsen! Da tragen zwei zusammen einen Baumstamm. «Mann, schieb doch nicht so!» «Tu ich ja gar nicht; du ziehst viel zu schnell!» Solche Erlebnisse auf sozialem Feld sind unerhört wichtig für den, der seinen Platz in der Welt finden will. Man lernt die besonderen Fähigkeiten eines jeden zu schätzen: Wenn der Baum, den wir zum Weg schaffen wollen, besonders schwer ist, muss Ilija dran; bei der Überlegung, wie man beim Fällen den Baum am sichersten fallen lässt, hat Mathias die besten Tipps; braucht man Hilfe, wird man bei Evelyn nie umsonst bitten; wo Florian auftaucht, wird es lebendig; Maike schafft still vor sich hin, nie hört man sie klagen. So könnte man jeden einzelnen charakterisieren, wie er auf seine Weise versucht, sich seinen Platz in der Gemeinschaft zu erobern, und wie die Kameraden ihm helfen – manchmal zart, manchmal auch derber -, sich einzuordnen.
Keiner kann sich diesem Prozess entziehen.
Und als Lehrer kann man mit Freude erleben, wie die Schüler sich verwandeln: Arbeit im Wald ist zugleich Arbeit an sich selbst. Ob die Eltern bemerken, wie ihre Kinder sich in diesen zwei Wochen verändert haben, wie sie gewachsen sind? Die zwei Wochen kamen uns allen sehr, sehr lang vor, weil sich so unglaublich vieles ereignet hat: Im Umgang mit der Natur, mit den Mitschülern, mit den Lehrern, mit der Arbeit und mit dem Heimweh - vor allem aber im Umgang mit sich selbst!
Und wenn wir uns dann in der Schulwerkstatt wieder zusammenfinden, dann klingen die Erlebnisse nach: «Weißt du noch...?» Das Holz, das wir nun verarbeiten, aus dem wir die Schale schnitzen, den Hocker bauen, es hat nun einen ganz anderen Erlebnishintergrund. Wind, Nebel, Wärme, Regen sind in der Erinnerung noch spürbar; der Raubvogel, das Reh, der Bienenschwarm und der Ruf des Kuckucks, alles gehört dazu und lässt in uns die Ehrfurcht wachsen vor dem Werkstoff, der unserem Verständnis, unserer Achtung anvertraut ist. Durch unserer Hände Tun wollen wir ihn in der Werkstatt in Schönes und Nützliches wandeln!