GERARD LOCKER
Um den Schuhmacher und sein Handwerk rankt sich seit Jahrhunderten Geheimnisvolles. Geschichten, Fabeln, Legenden zeigen die rege Teilnahme der Menschen am Schuster und seinem Wirken zu allen Zeiten, und nicht wenige Geschichten sind von Schustern selbst ersonnen beim ruhigen Arbeiten und dem weitschweifenden Blick in das trübe Licht der Schusterkugel. Die Schuhmacherzunft, eine der ältesten Zünfte, erstmalig 1104 in Trier erwähnt, war im Mittelalter hoch angesehen, galt aber zugleich auch als «spintisierende Nation». Was zeigt, dass der Schuhmacher nicht nur einen geschulten Blick, geschickte Hände und Sachverstand besaß wie die anderen Handwerker auch, sondern offensichtlich einen «regen» Geist hatte und oft in dem Ruf stand, etwas verschroben zu sein, dem Philosophieren nachzugehen. Wohl kein anderes Handwerk und kaum ein anderer Berufsstand hat in seiner Geschichte so viele bedeutende Männer aufzuweisen wie das Schuhmacherhandwerk. Erinnert sei an Hans Sachs, Hans von Sagan, Jakob Böhme.
Es liegt nahe, diese Eigenschaften mit dem Körperteil und dessen Umhüllung, Fuß und Schuh, für die der Schuster zuständig ist, in Zusammenhang zu bringen. Die Schusterstube strahlte eine außergewöhnliche Anziehung auf die Menschen aus, die sich gerne in ihr versammelten. Auch das Leder, mit dem der Schuhmacher tagtäglich umgeht, ist etwas Besonderes. Es ist aus Häuten gegerbt, ein dem Menschen nahestehender, organischer Werkstoff. - Sicher sind all das Gründe, die zu dem alten Spruch «Schuster bleib bei deinen Leisten» führten.
Obwohl oder gerade weil es sich beim Schuster um ein Grundhandwerk handelt, frönen wir während der Schuhmacherepoche keiner Nostalgie. Es handelt sich vielmehr um ein hochaktuelles Problemfeld, das in Zukunft noch größere Bedeutung erlangen wird.
Rudolf Steiner sprach in einem Vortrag über die Pädagogik und den Lehrplan der gerade gegründeten Stuttgarter Waldorfschule unter anderem auch über das Schustern:
«So hätte ich, wenn das durchführbar wäre, sehr gern einen Schuster als Lehrer angestellt. Das lässt sich nicht durchführen, weil sich das nach den heutigen Anforderungen nicht in den Lehrplan eingliedern lässt. Aber zum Exempel, damit das Kind auch wirklich lernt, einmal Schuhe zu machen, und weiß, nicht theoretisch, sondern aus dem Handgriff, was dazugehört, Schuhe zu machen, hätte ich sehr gern vom Anfang an in der Waldorfschule unter der Lehrerschaft auch einen Schuster gehabt. Es ging eben nicht, weil man mit den Behörden nicht zurechtkommt. Mit dem Leben würde man dadurch gerade zurechtkommen.»[1]
Zu anderem Anlass sagte er, «ein rechter Philosoph solle zumindest ein paar Stiefel gemacht haben.»[2] Man sieht, dass R. Steiner das Schustern am Herzen lag und er ihm noch eine be- sondere Dimension beimaß, die sich tatsächlich am einfachsten im Tun erfahren lässt. Die wichtigste Aussage ist wohl die, dass man aus dem Handgriff heraus lernen solle, was dazugehört, Schuhe zu machen.
Beim Schustern ist man andauernd auf den Fuß konzentriert, das Organ, das am innigsten mit der Erde verbunden ist. Die Füße sind zum einen direkt der Erde und der Last, die sie zu tragen haben, angepasst. Durch Druck und Gegendruck formt sich im dritten Lebensjahrsiebt ihre reife Gestalt aus. Zum anderen sind sie für die Aufrichtekraft und das sich entwickelnde Ich von großer Bedeutung. Viele Fußbeschwerden, unter denen der erwachsene Mensch leidet, sind während der Pubertät erworben worden. Man sieht, dass gerade in dieser Zeit eine besondere Aufmerksamkeit auf die Füße gelenkt werden muss.
Gleichzeitig leiten uns diese Gesichtspunkte zu dem Verständnis, warum gerade in der 9. Klasse die Schuhmacherepoche stattfinden soll. Vollzieht sich doch in dieser Altersstufe (14/15 Jahre) die Erdenreife und der beginnende Aufstieg zur Persönlichkeit aus eigenen inneren Kräften.
«Was dagegen im Inneren eines jungen Menschen im Reifealter vor sich geht, ist oft rätselvoll und schwer durchschaubar, denn er spricht sich nicht mehr so leicht über seine Erlebnisse aus wie früher. Er behält etwas für sich selbst, weil er einen neuen Innenraum erspürt, der das aufnehmen kann und selbst zu verarbeiten beginnt, was ihn bewegt. Auch hier hilft uns Rudolf Steiner durch den Hinweis, dass nun das ganz persönliche Schicksal des Jugendlichen in ihm zu wirken beginnt. Die lichte Zeit der Kindheit ist abgelaufen, der neu sich bildende Innenraum ist noch dunkel, - aber es liegt ein Funke darin, der durch eigene Kraft, eigene Anstrengung neue Helligkeit zuerst in diesem Raum verbreiten, später mehr und mehr herausstrahlen kann und soll in die Umwelt.»[3]
Und letztlich ist das Schuhemachen nichts anderes als die Gestaltung eines Innenraumes!
Stelle man sich nur einmal vor, dass der Innenraum eines Schuhes nicht richtig gestaltet ist! Die zwangsläufigen Konsequenzen hat wohl jeder schon einmal am eigenen Leib erfahren.
Man kann den Schuh als konvex-konkaven Hohlkörper ohne Symmetrieachse beschreiben; aber bei genauem Hinschauen ist es so, dass es ein Links und ein Rechts gibt und die Symmetrieachse zwischen den beiden Füßen liegt. Das bedeutet: Der Schüler arbeitet nicht wie in den anderen Epochen an einem Gegenstand, sondern man muss sich andauernd zeitgleich mit zweien beschäftigen, links wie rechts, und dazu noch spiegelbildlich.
Der äußeren Gestaltung des Schuhs kommt bei diesem Ansatz nur eine sekundäre Bedeutung zu. Leider ist aber in der alltäglichen Praxis immer wieder zu sehen, dass die äußere Gestaltung des Schuhs für die Schüler einen großen Stellenwert einnimmt, auch dann noch, wenn gesundheitliche Risiken damit verbunden sind (Turnschuhe, Springerstiefel). Oft erst dann, wenn der Schuh, «obwohl nicht spitz genug», zum Ende der Epoche angezogen wird, entsteht dieses frappierende Erlebnis des gestalteten Innenraumes, und die Arbeit wird geliebt. Es wird aber auch eine nicht nur für den Schuh (das Schustern), sondern z.B. auch in der Architektur gültige Gesetzmäßigkeit erkennbar, dass bei einer guten Gestaltung des Innenraumes zugleich die äußere Gestalt eine zeitlose Schönheit erhält.
Um den oben genannten Forderungen R. Steiners gerecht zu werden, erscheint es wichtig, dass die Schuhmacherepoche in ihrem Aufbau dem sogenannten «Urhandwerk» entspricht. Das heißt, dass eine klare Folge von einzelnen Arbeitsschritten und Materialien aus der liegenden Fläche (Leder) zum stehenden Produkt (Schuh) führt.
Der nachfolgende Epochenbericht kann nur einen blassen Eindruck geben von dem, was in der Werkstatt geschieht. Das weiche, zähe Leder mit seinem typischen Geruch, die ungewohnten Werkzeuge und Arbeitsgänge schaffen eine eigene Atmosphäre, die durch die zuerst ganz fremd anmutenden Fachausdrücke wie Schärfen, Buggen, Doppeln usw. noch unterstrichen wird. Die strenge Logik der Arbeitsfolge erfordert hohe handwerkliche Disziplin, die der Schüler einhalten muss, wenn das Werk gelingen, das heißt der Schuh passen soll. Er kann aber jeden notwendigen Arbeitsschritt klar durchschauen und durch diese Einsicht den Anweisungen des «Meisters» willig Folge leisten. Das ist, pädagogisch gesehen, gerade in diesem Lebensalter von großer Wichtigkeit. Sämtliche Schüler der 9. Klassen haben eine vierwöchige Schuhmacherepoche. Die Gruppenstärke liegt bei acht bis zehn Teilnehmern. Es stehen ca. 35 Unterrichtsstunden zur Herstellung eines Schuhpaares zur Verfügung. Die gesamte Epoche wird von materialkundlichen, historischen und «medizinischen» Themen begleitet.
Es wird auffallen, dass sich die Arbeitsgänge so gliedern, dass der Schüler zum einen das Material immer intimer kennenlernt, zum anderen sich die einzelnen Handgriffe in verfeinerter Form bis zur Fertigstellung der Schuhe wiederholen. Dadurch entstehen kaum Übungen, die nicht direkt an einzelnen Teilen des späteren Schuhs gemacht werden. Auch die Vielfalt der einzelnen Arbeitsschritte und Werkzeuge erscheint so bei genauem Betrachten folgerichtig und übersichtlich. Kann beim Walken der Brandsohle der Metallnagel ruhig noch krumm in den Leisten geschlagen werden - «Hauptsache, er hält» -, ist beim späteren Holznageln eine präzise Führung des Schusterhammers erforderlich.

Hier ist ein Sortiment von Schusterwerkzeugen abgebildet, welches für die Schuhmacherepoche ausreicht. Erfahrungsgemäß kommen im Lauf der Zeit noch manche speziellere Werkzeuge dazu.

Am ersten Arbeitstag lernen die Schüler die verschiedenen Gerbverfahren kennen. Es wird genauer auf den Unterschied zwischen Chrom- und Vegetabilleder eingegangen, und es werden die mit der Gerbart verbundenen hygienischen und fertigungstechnischen Zusammenhänge erarbeitet. Es wird die Größe einer Rinderhaut (6-8 qm) demonstriert und die unterschiedlichen Ledergüten in der Haut dargestellt.
Anschließend vermessen sich die Schüler gegenseitig die Füße. Es werden 18 Maße von den Füßen genommen. Hier entsteht ein direkter betrachtender Kontakt mit den Füßen eines anderen Menschen. Zudem übernimmt der Messende die Verantwortung für die Paßform der Schuhe, die sein Mitschüler anfertigen wird. Die Notwendigkeit zu exaktem Arbeiten entwickelt sich so ganz von selbst. Da in der 9. Klasse das menschliche Skelett Thema des Biologieunterrichts ist, bietet sich das genaue Betrachten des Fußskeletts an. Darauf aufbauend wird über gesunde und weniger gesunde Schuhe gesprochen. Oft bringen die Schüler zur nächsten Stunde verschiedene Schuhe mit.
Mit Hilfe der 18 Fußmaße werden vom Lehrer aus vorhandenem Bestand die Leisten für jeden Schüler ausgesucht. Sie dienen gleichsam als Modell des Fußes, über welches der Schuh geformt wird.

Am zweiten Arbeitstag wird das Brandsohlenleder auf der Unterseite des Leistens angebracht. Die Brandsohle wird als Seele des Schuhs bezeichnet und sollte aus bestem Leder bestehen, weil sie beim fertigen Schuh direkt unter der Fußsohle liegt. Sie ist maßgeblich an der Atmung des Schuhs beteiligt.
Das Leder muss in nassem Zustand auf den Leisten aufgewalkt werden, damit es sich den Krümmungen der Leistensohle anpassen kann. Das erfordert einiges an handwerklichem Geschick, denn Leisten, Werkzeug und Leder müssen freihändig und auf dem Schoß gehalten werden. So «begreift» man erst die komplizierte Form des Leistens, der im Verlauf der Arbeit durch das darüberliegende Leder immer mehr verborgen wird, aber andererseits das Maß für eine richtige Gestaltung des Schuhs gibt. Beim Walken entsteht der erste, noch recht grobe Kontakt mit dem Leder; doch sind hier schon viele Arbeitsabläufe vorhanden, die zu einem späteren Zeitpunkt in verfeinerter Form wiederkehren.

Am dritten Arbeitstag wird zuerst die geschwungene Sohlenform aus dem inzwischen getrockneten Brandsohlenleder herausgeschnitten.
Dann geht es an das Aufzeichnen des Oberleders, für das eine Papierschablone angefertigt wird. Nach dem Übertragen der Schablone auf das Oberleder werden die Schaftteile ausgeschnitten. Das genaue Zuschneiden (Ausfellen) dieses elastischen, zähen Materials ist sehr schwierig und verlangt äußerste Konzentration. Das Leder zieht sich unter dem Messer weg, und ein nachträgliches Schnitzeln und Schnippeln verschlechtert das Ergebnis so sehr, dass noch einmal von vorne angefangen werden muss. Nur mit einem gefühlvoll-beherzten Vorgehen schafft man es auf Anhieb, die gewünschte Form auszuschneiden.
Es folgt nun eine Arbeit, die sich für die Schüler als die schwierigste der ganzen Epoche herausgestellt hat: das Dünner machen (Schärfen) des Leders an den Kanten, wo zwei Lederstücke übereinander gefügt werden müssen. Es verlangt starkes Einfühlen in das Material, und es benötigt nahezu den ganzen Arbeitstag zur Vorübung, bis man sich an die Teile wagen kann.
Am vierten und fünften Arbeitstag werden die Schaftteile mit der Doppelnaht zusammengenäht. Es wird gleichzeitig mit zwei Borsten an den beiden Drahtenden (den «Nadeln») genäht. Beim Nähen geraten die Schüler schnell in einen individuellen Rhythmus. Die Arbeit bereitet offensichtlich so viel Vergnügen - denn der Schuh wächst nun regelrecht unter den Händen -, dass die Zeit wie im Fluge vergeht!

Am sechsten Arbeitstag werden die Einzelteile auf dem Leisten miteinander verbunden. Dieses ist wohl, bis auf das Herausnehmen des Leistens aus dem fertigen Schuh, der spannendste Tag der Schuhmacherepoche: Das Unten und Oben werden zusammengefügt! Das heißt, der Schaft wird so von oben «über den Leisten geschlagen», wie zuerst die Brandsohle von unten an dem Leisten angebracht wurde.
Am siebten und achten Arbeitstag werden Brandsohle und Schaft miteinander verklebt und sauber aneinandergepasst. Auch die weitere Arbeit dient der verfeinerten Auseinandersetzung mit der Leistenform. Nur wenn der «Rahmen» (ein Lederstreifen, der um die Sohlenkante herum gearbeitet wird) sich harmonisch in die Gesamtform des Schuhes einfügt, ist ein gebrauchsgerechtes Zusammenspiel zwischen Boden (Sohle) und Schaft (Oberleder) gewährleistet. Hier wird der Schüler noch einmal unmittelbar mit Links und Rechts konfrontiert, denn die Sohlen sollen in ihrer Form natürlich möglichst gleich sein.
Am neunten und zehnten Arbeitstag wird der tragende Boden, die eigentliche Laufsohle (in der Fachsprache die «Durchaussohle») aufgeklebt und die Löcher für die Nagelreihen vorgestochen. Dann werden die Holznagel eingeschlagen. Spätestens hier zeigt sich, ob der Umgang mit dem Schusterhammer beherrscht wird! Denn nur dann lassen sich die Nägel mit den geforderten drei Schlägen in den Boden bringen und verbinden die einzelnen Schichten zuverlässig.

Wenn nun am elften Arbeitstag der Absatz aus einzelnen Lederflecken aufgebaut und mit Holznägeln befestigt wurde, können am zwölften Arbeitstag die letzten Verfeinerungen gemacht werden: Die Schuhe werden, falls gewünscht, gefärbt; die Sohlenkante wird geschliffen und gewachst, anschließend werden die Schuhe gefettet, die Leisten herausgenommen und der Innenraum ausgeraspelt.
Die erste Anprobe muss man einfach einmal miterlebt haben! Für die Schüler ist dieses vollkommen überraschende Erleben des von ihnen gestalteten Innenraumes Höhepunkt und Erfüllung der ganzen «Schinderei» der vergangenen vier Wochen, und sie sind stolz und wundern sich über ihre eigene Leistung.

Aus dieser gerafften Darstellung kann hervorgehen, dass es innerhalb der vorgegebenen Zeit bei guter Vorbereitung und fachlichem Können des Lehrers durchaus möglich ist, mit Schülern brauchbare, handwerklich einwandfrei gearbeitete Straßenschuhe herzustellen. Der Gesamtvorgang mit Messen - Anfertigen von Einzelteilen - Zusammensetzen rückt das Schuhe machen in die Nähe des Schneiderns, konzentriert jedoch die Aufmerksamkeit auf die Füße, was in der Entwicklung des Schülers zur Erdenreife von Bedeutung ist.
Das Schuhemachen in dieser Form ist noch neu, weil es an Menschen mangelt, die es vermitteln können. Das wachsende Interesse an diesem Handwerk bestätigt seine Notwendigkeit in der Waldorfschule.
[1] R. Steiner, GA 311,19.8.1924
[2] R. Steiner, GA 307, 17.8.1923
[3] M. Martin in Erziehungskunst 10/1985