MICHAEL MARTIN
«Unsere Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen,
- erstens nämlich als Gegensätze,
dann aber als Pole einer Einheit«
(Hermann Hesse).
Ist man einmal auf dieses Motiv aufmerksam geworden, lässt es einen nicht mehr los: unaufhörlich entdeckt man aus allen Phänomenen unserer Welt, dass ihrem Dasein, ihrem Werden und Vergehen polare Gegensätze zugrunde liegen, die in Spannungsverhältnisse zueinander treten und nicht nur das Leben um uns, sondern auch in uns als geistig-seelische Äußerungen bestimmen. Offensichtlich rühren wir hier an ein Urgeheimnis unserer Welt, das schon in ältesten Zeiten ins Bewusstsein der Menschen trat. So lesen wir im Schöpfungsbericht des Alten Testamentes (1. Buch Moses, 1), wie der Schöpfergott als erste Tat aus dem Chaos das Licht erschafft, dadurch die Sonderung von der Dunkelheit bewirkt und diesen Urklang der Polarität in rhythmischer Ausgewogenheit allen weiteren Schöpfungsgebärden grundlegend zuweist. Aber in dem Zitat von H. Hesse ist zugleich auf eine weit schwierigere Aufgabe gedeutet als nur Gegensätze in unserer Welt kennenzulernen, nämlich diese:
Wir sehen, wie gerade der Jugendliche während der Reifezeit in Polaritäten seines Seelenlebens hineingestellt ist, die durch das sprichwörtliche «himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt» treffend charakterisiert werden. Wir kennen die feinsten Regungen für Gerechtigkeit, erschrecken aber über die mitleidlosen Urteile über einen Menschen, der naturgemäß so wie jeder andere irgendwelche Fehler zeigt. Wir erleben die durch nichts aufzurüttelnde Trägheit, aber auch den bis an die Grenze der Selbstaufopferung gehenden Einsatz für ein erkanntes Ziel. Wir verzweifeln über die Müdigkeit der Glieder und sind erstaunt über die unermüdliche Ausdauer bei einer Radtour.
Alles, was die Bewegungen des Kindes früher so beseelt, leicht und frisch gemacht hat, ist in der Zeit der Erdenreife wie entwichen und macht einer oft erschreckenden Bewegungsunlust und Ungelenkigkeit Platz. Was bisher noch als Anmut, als kindliche Lieblichkeit in den Zügen des Antlitzes zum Ausdruck kam, hat sich zurückgezogen und verwandelt. Zwischen Freude und Schmerz, Sympathie und Antipathie, Überheblichkeit und Zerknirschung lebt eine ganze Welt auf an Gefühlen, die der Seele ihre Farbigkeit, ihre Vielgestaltigkeit und innere Weite gibt.
All diese Spannungen im leiblichen und seelischen Bereich beruhen auf dem Auftauchen, dem Gewahrwerden von «Trieb, Begierde, Leidenschaft» im individuellen Seelenraum; wobei hier keineswegs negative Eigenschaften gemeint sind, sondern ganz allgemein eine antreibende, begehrende, begeisternde Seelenkraft angesprochen ist, die den Menschen in seelische Regsamkeit, tätige Bewegung, anfeuernde Lebendigkeit bringt, wenn er sie in sich aufruft und gestaltet.
Innenraumbildung aber ist nur möglich durch Abgrenzen, Aussondern. Dadurch entsteht zwangsläufig ein neues Verhältnis zum Außenraum; eine Distanz, durch die die umgebende Welt wie mit neuen Augen, objektiver, nüchtern, sachlich wahrgenommen werden kann. Dem Jugendlichen öffnet sich seine Innenwelt ebenso wie die Außenwelt; zu beiden sucht er ein neues Verhältnis zu gewinnen, in beiden sich selbst zu finden.[1]
Für die Verinnerlichung ist das Sich-Herauslösen aus einem weiteren, größeren Zusammenhang notwendig; Hand in Hand damit entsteht die Gefahr des Egoismus und der Einsamkeit. Für den Einsamen versinkt die Welt in der Besinnung auf sich selbst im Dunkel. Das ist ein notwendiger Prozess. Dieses Eintauchen in ein dunkles Element kann dem Jugendlichen bewusst werden und sich in folgende Worte kleiden:
«Finsternis ist eine Wolke, eine dunkle Wolke, die sich in uns bildet. Wir leben in einer Welt der Finsternis.» (Michael B., 15 Jahre.)
«Nacht, Nacht, kann der Mensch sie besiegen oder ein ganzes Leben lang mit ihr leben. Manche lieben sie. Manche hassen sie. Manche werden in ihr geboren und manche sterben in ihr. Ich weiß, ich könnte in der Nacht nicht leben. Ein Streichholz anzünden im Maul des Ungeheuers heißt eine neue Sonne entflammen...» (Robert S., 15 Jahre.)[2]
Wir wissen auch, wie in diesem Lebensalter das Schwarz als Lieblingsfarbe eine hohe Geltung hat wie vorher und nachher niemals wieder.[3] Jegliches Aussondern durch Hüllenbildung bedarf letztlich einer festeren Stofflichkeit; im flüssigen Bereich allein können sich nur schwerlich Innenräume bilden, im Luftigen verströmt jede Formbildung im Nu. Dieser seelischen Entwicklung entspricht auch tatsächlich eine Verfestigung der Leibesgestalt des Kindes, das sich ja in diesem Lebensalter mehr und mehr mit seinem Knochensystem verbindet, wir wir früher gehört haben.[4]
Einsamkeit, Dunkel, Schwere - ein verzweiflungsvoller Zustand? Durch ein Schlüsselwort von R. Steiner können wir ihn verstehen lernen und versuchen, ihn pädagogisch fruchtbar zu machen:
«Wodurch wird der Wille regsam? Dadurch, dass die Seele Schwere fühlt durch den Leib.»[5]
Zuerst einmal muss die Schwere des Leibes da sein; sie soll von der Seele gefühlt werden, damit der Wille sich regen kann, gegen die Schwere anzugehen. Entwicklung des Willens bedeutet immer Angehen gegen einen Widerstand! Schwere und Leichte, Finsternis und Licht, Tod und Auferstehung - das sind Urmotive, die hinter diesem Lebensalter aufleuchten. Kann der Jugendliche «eine neue Sonne entflammen», die neue Kräfte in seiner Seele auslöst, oder versinkt er in dem, was die Außenseite einer rein materiellen Welt ihm anbietet - das ist die entscheidende Frage.
Hier liegt eine pädagogische Zielsetzung vor von außerordentlicher Bedeutung. Erschöpft sich die Welt, die der Jugendliche vorfindet, in materiell erfassbaren Vorgängen, oder ist sie durchzogen von elementar erlebbaren, zumindest ahnbaren Gestaltungsprozessen, in denen sich möglicherweise geistige Schöpferkräfte kundtun? Kann man durch das schöpferische Eintauchen in die polaren Form-, Farb-, Bewegungsphänomene unserer Welt selbst zum Schöpfer werden und durch das Zusammenklingen im Kunstwerk eine neue Einheit hervorrufen, erschaffen, bescheidener gesagt, die ersten Schritte, die Richtung dahin dem jungen Menschen weisen? Dann müsste die Einheit, von der Hermann Hesse spricht, im Menschen selber liegen und die Hoffnung, sie zu verwirklichen, der Verantwortung des Menschen selbst anvertraut sein...

Was läge näher, als dies nicht in verbalen Unterrichtseinheiten dem Schüler zu erklären, nicht darüber zu diskutieren, sondern selbst schöpferisch tätig zu sein! Im Wort vermittelt, würde es zu leicht Sache des Glaubens oder Nicht-Glaubens bleiben, im eigenen Tätigsein steigt es, wenn es gelingt, zu überzeugendem Erlebnis auf. Dann kann es sein, dass man «in den 20er Jahren wieder aufgenommen wird in die Welt, aus der man bei der Geschlechtsreife herausgeworfen worden ist. Man muss wieder aufgenommen werden, man muss wieder einen Anschluss finden, denn ohne diesen Anschluss geht es im Leben nicht. Diesen Anschluss muss man selbständig finden.»[6]
Vor einem solchen Hintergrund kann man die Notwendigkeit des bildnerisch-künstlerischen Unterrichts sehen, der besonders in der Oberstufe der Waldorfschulen einen breiten Raum einnimmt.
Zum Lehrplan des bildnerisch-künstlerischen Unterrichts der Oberstufe liegen von R. Steiner nur ganz wenige Hinweise vor. In der 9. und 10. Klasse sollen Schwarz-Weiß-Übungen und Plastizieren stattfinden. Dazu kommen in den beiden obersten Klassen elementares Schreinern und Malen.[7]
Wir gewinnen aber einen sinnvollen Aufbau, wenn wir uns nochmals die Entwicklungsstufen des kindlichen Bewegungsorganismus vor Augen halten, die uns schon wichtige Grundlagen für alles Werkmäßige gegeben haben. Wir verfolgen also nochmals in aller Kürze, wie die Bewegungsvorgänge im ersten Jahrsiebt grundsätzlich vom Seelischen, das noch über den ganzen Organismus ausgegossen ist, bewirkt werden, wie sich die Seelenvorgänge im Leiblichen widerspiegeln. Um das 7. Lebensjahr werden die Bewegungen stärker vom Atem- und Blutrhythmus geformt. Um das 9. Lebensjahr kommt in den Bewegungen mehr das Dehnen und Zusammenziehen des Muskels selbst zum Ausdruck. Und im 12. Lebensjahr wendet sich der Muskel dem Knochenbau zu und ergreift und bewegt dieses harte System in seiner Weise kraftvoll, schwer, den Gesetzen der Mechanik folgend. [8]
Von diesen Entwicklungsschritten ausgehend, setzt im rechten Augenblick stets ein neues Unterrichtsfach ein, das diese Vorgänge unterstützt und gesund herausarbeiten möchte. Als inneres Bild steht vor uns der Durchgang des kindlichen Organismus durch die Elemente, ein Abstieg aus den Wärmebereichen der Seele über das Luftige, Wässerige bis hin zum Verbinden mit dem Festen, Erdigen: ein Verdichtungsvorgang. Wir können verfolgen, wie diesen rein äußerlich wahrnehmbaren Veränderungen in Haltung und Bewegung des Kindes seelische Entwicklungsschritte unmittelbar entsprechen und ihnen im Lehrplan aller Fächer exakt Rechnung getragen wird.

Wir verfolgen diesen Weg weiter unter dem Gesichtspunkt, dass der Jugendliche nach dem Durchgang durch die Erdenschwere aus eigener innerer Kraft seine Bewegungs- und Gestaltungsabläufe beleben kann. Indem er an sich arbeitet, können die Muskeln nach dem schlaksigen Stadium wieder feinfühliger, geschmeidiger die Bewegungsvorgänge gestalten. Später dann, je stärker die in ihm aufkeimenden Seelenkräfte wirksam werden, wird er jene mehr und mehr durchseelen und eigen-willig individualisieren.
Dass hier ein idealer Entwicklungsweg beschrieben wird, der vom Leben nach allen Richtungen hin gefärbt und verändert werden kann, braucht nicht besonders betont zu werden. Aber für den feiner Beobachtenden kann durchaus das innere Bild entstehen, dass der Jugendliche in der Oberstufe den umgekehrten Gang macht wie das Kind im zweiten Jahrsiebt, dass er seinen Körper mehr und mehr aus der Gebundenheit an Schwere und Mechanik löst und über ein bewegtes, belebtes Element in ein beseeltes übergeht - ohne sich dabei letztlich von der Erde zu lösen, auf der er ja nun seine Erdenaufgabe ergreifen und erfüllen soll. Hier müsste die schematische Zeichnung nicht nur zur «Persönlichkeit» hinaufführen, sondern gleichzeitig auch die waagrechte Richtung auf der Erde beibehalten.
Es handelt sich also nun darum, durch künstlerische Übungen im jungen Menschen Kräfte anzuregen, die ihn von innen heraus beleben, beseelen, ja «begeistern» können, damit der charakterisierte Aufstieg in Bewegung kommt.
In der 9. Klasse setzt das Plastizieren ein, in dem Kräfte der Belebung wirken, wenn es nicht nur gegebene Naturformen nachahmt, sondern dem Entstehen nachspüren will, das zu einer Form hinführt.

Schwer und kühl liegt der feuchte Ton in der Hand. Eine Kugel soll daraus geformt werden, weil die Hände eine solche unmittelbar umfassen, einschließen können. Jedem feinen Druck gibt der noch formlose Ton nach. Allmählich bildet sich die Haut der Kugelfläche durch das Ertasten ihrer Form. Man kann eigentlich eine Kugel nicht hinlegen, weil sie der Tischfläche nicht angepasst ist. Kugel und Ebene sind starke Gegensätze, die eines Vermittlers bedürfen; etwa einer Schale, in die man die Kugel hineinlegen kann. Das ist noch nicht befriedigend, - man müsste sie aufhängen, um ihre Rundheit allseitig zur Geltung zu bringen. Aber auch so wird man ihr noch nicht gerecht, weil sie durch das vollkommene Gleichmaß ihrer Flächenkrümmung sich in unsere Raumdimensionen nicht einordnen lässt: sie hat kein rechts/links, kein oben/unten und steht unserem dreidimensionalen Raum dadurch fremd und teilnahmslos gegenüber. Sie wendet vielmehr ihre einzige Fläche ihrem eigenen Mittelpunkt zu. Eigentlich müsste sie frei im Raum schweben oder sich bewegen wie die Gestirne des Kosmos. - Gibt es Kugeln im natürlichen Bereich unserer Erde? Wo treten kugelige Gebilde auf? Wir denken an Früchte, Knollen, Wassertropfen, Samen, Knospen, Eier aller Art, - an die Gestalt des Kopfes. Sie bilden sich immer da, wo neues Leben entstehen will, noch undifferenziert in sich ruhend.[9]
Nun verändern wir die gleichmäßige Rundung, spannen sie einmal flacher, krümmen sie einmal stärker, so dass eine Form entsteht, die mehrfach gekrümmte Flächen aufweist, aber alle im konvexen, hügelartig gewölbten Bereich bleibend. Eine dritte Übung kann die anfängliche Kugel auf einer Seite mehr zur Streckung führen, während die andere Seite ganz im Kugeligen verharrt. Haben wir diese Übungen im Schülerkreis gemacht und alle unsere Arbeiten in drei Gruppen zusammengestellt, so erleben wir, wie die Kugeln nebeneinander ruhen, jede in Vollkommenheit für sich allein. Die Formen der zweiten Gruppe kann man einander zuordnen, sie sind lebhafter und wissen sich untereinander etwas zu erzählen. Die dritte Gruppe schließlich weist über sich selbst hinaus und scheint sich für den Umkreis, in dem sie sich befindet, zu interessieren.
Eine unerwartete Polarität tut sich auf: Es gibt Formen, die kugelig in sich selbst ruhen; Formen, die sich mehr ausstrecken und dadurch wach werden für den Umkreis. Führt man diese ersten Übungen so weiter, dass Rundung und Streckung in rhythmischer Folge auseinander hervorgehen, einmal länger, einmal gedrungener usw., wie es sich aus der Hand heraus bei jedem ergibt, entstehen daraus derartige Gebilde, die man leicht durch Schnauze oder Ohren zum «richtigen» Tier ausgestalten kann. Was heißt aber «richtig»?
Bewegung und Haltung des Tieres werden durch seinen Trieb bestimmt. Dieser ist bei jeder Tierart anders. Deshalb sind auch die Tierformen so verschieden! Wird dieser Trieb durch eine Witterung, ein Geräusch, durch irgendeine andere Wahrnehmung von außen erregt, so drückt er sich unwillkürlich im ganzen Körper aus: das ganze Tier wird Auge, Ohr oder Geruch, es wird erregt, durchzittert von seiner Begierde, und im nächsten Augenblick wird es davonstürzen - oder schleichen, in Bewegung übergehen, wie angesaugt von dem Ziel, das weit außer ihm liegt. Alle diese lauernden oder sich triebhaft bewegenden Tiere strecken sich und haben, so angesehen, ihren Ruhe- oder Schwerpunkt außer sich.
Dann entsteht das andere Tier, das in die Ruheform eintaucht, sich so zusammenrollt, dass es ganz nach innen gewendet wie zur Kugel wird und schläft. Beobachter behaupten, dass die auf dem Boden breit hingestreckte Katze nicht so fest schläft wie jene, die sich zur Rundform zusammenzieht. Eine Fülle von Anregungen zur eigenen Beobachtung eröffnet sich!
Ist in dem Schüler, der diese Übungen durchmacht, wenigstens ahnend erlebbar geworden, dass sich Ruheprozesse grundsätzlich runder Formen bedienen, dass eine triebhafte Bewegung sich im organischen Bereich nur mit Hilfe gestreckter Form realisieren kann, so ist eine unmittelbare Brücke geschlagen zu den offenbaren Geheimnissen unserer Welt, die in ihrem unendlichen Formenreichtum Gesetzmäßigkeiten ausspricht, die von verborgenen, überall wirksamen Gestaltungskräften zeugen.

Verändern Ruhe und Bewegung die Leibesform des Tieres in wesentlicher Art, so streckt sich der Mensch in seiner ganzen Gestalt, lässt sich aber nicht von einem Trieb fortreißen, sondern schließt sich selbst in der runden Ruheform des Hauptes nach oben ab. Ruhe- und Bewegungsformen treten als Kopf und Glieder im Menschen gleichzeitig auf und werden im Wechsel, aber in zurückhaltender Ausgewogenheit betätigt in der nach außen gerichteten Bewegung der Gliedmaßen oder der nach innen gewendeten Funktion der Sinnesorgane. Diese sind hauptsächlich im Kopf konzentriert und führen den Menschen durch ihre Wahrnehmungen in die Zurückhaltung des Denkens und Besinnens.
Leibliche und geistige Tätigkeit des Menschen drücken sich in ganz verschiedenen Haltungen und Gesten der Körperformen aus. Das kann zu ebenso verschiedenartigen Aufgabenstellungen führen: Ein Lastträger zum Beispiel stemmt sich gegen die Schwere der Last; hier wird das Überwinden der Schwere zum körperhaften Bild. Ein «Lesender» wird in ruhiger Haltung verharren, sitzen oder vielleicht am Boden kauern - man muss aber trotzdem sehen können, dass er nicht etwa schläft, sondern seine Körperhaltung muss die innere Anspannung des Lesens verraten. Ganz anders wird die Mutter die Hand über das Haupt des Kindes legen und durch die gesamte Haltung der Gestalt Liebe und Zuneigung zum Ausdruck bringen. Solche seelische Regungen kann man besonders durch die Geste der Arme und Hände darstellen, denen die Bewegung des Hauptes und Körpers folgt. Es schadet nichts, wenn man die Schüler auf solche «Gesetze» etwas nüchtern hinweist; sie sollen ja aufmerksam werden auf den Zusammenhang von Leib, Seele und Geist, oder anders gesagt, im Äußeren den Ausdruck eines Inneren finden. Zum Abschluss der Epoche haben wir gerne das Thema «Zwei Menschen» oder «Mensch und Tier» gewählt, wo der Zusammenklang gemeinsamer oder auch gegensätzlicher Empfindungen oder Bewegungen in freier Weise vom Schüler gestaltet werden kann.
Sind diese Polaritäten der Ruhe- und Bewegungskräfte Thema der 9. Klasse, so setzt in der 10. Klasse eine stärkere Verinnerlichung ein, die durch eine andere Form-Polarität zum Ausdruck kommt: durch Höhlung und Wölbung. Ruhe und Bewegung manifestieren sich in der menschlichen Gestalt als Kontrast zwischen oben und unten: Höhlung und Wölbung lokalisieren sich im seelischen Bereich der Mitte und leben vom Gegensatz zwischen innen und außen. Insofern hängen sie mit der Atmung, ja überhaupt mit allem Rhythmus im Menschen zusammen. Alte Kulturen haben davon gewusst und dieses zur Darstellung gebracht in Gestalten, die man heute für «abstrakt» hält.
R. Steiner bringt solche Gesetze der menschlichen Natur erneut zum Bewusstsein durch Tafelzeichnungen, die er für seine Vorträge benutzte. Er beschreibt darin ausführlich die Dreigliederung der menschlichen Gestalt nach Kopf, Brustorganisation und Gliedmaßen.[10]Diese Polarität von Wölbung und Höhlung wird nun unser Thema sein. Wir gestalten aus Ton zuerst eine Form, deren Kräfte wie von innen herausdrängen und sich ausschließlich in konvexen, nach außen sich wölbenden Flächen darstellen; sodann eine zweite Form, deren Flächen wie von außen hereingedrückt, als konkave, gehöhlte Flächen sich zeigen. Lassen wir beide Plastiken in ihrer Eigenart auf uns wirken: Die erste erscheint weicher, lebendiger, noch bildungsfähig, wie träumend; die zweite wirkt dagegen hart, starr, festgelegt, wie tot, aber auch wacher. Das rührt besonders von den Kanten her, die sich bei der zweiten Formgruppe hart trennend zwischen die einzelnen hohlen Flächen legen. Bei den ersten Formen treten die Kanten mehr zurück, es kommen stärker die Flächen selber zur Geltung.

Solche Übungen erheben nicht den Anspruch darauf, «künstlerische» Gestaltungen zu sein; darauf kommt es hierbei überhaupt nicht an, obwohl der Schüler trotz der starken äußeren Bindung durch das Thema eine unglaubliche Fülle von Formen erfinden kann. Wichtig ist zu erfassen, dass Formen selber eine Sprache sprechen, die aus ihnen selbst aufsteigt und «erlernbar» ist. Sie äußern in ihrer Rundung oder Höhlung eine «Stimmung», so wie auch von Rot oder Blau, Dur oder Moll eine bestimmte Stimmung objektiver Art ausgeht, die sich mit Worten beschreiben lässt.
Nun versuchen wir, aus denselben einseitigen Formelementen zwei menschliche Antlitze zu bilden. Auch hier erkennen wir die gleichen Wirkungen wieder, die von Wölbung und Höhlung ausgehen. Dazu aber kommen noch unerwartete neue: nicht nur weicher, lebendiger, träumender sehen die einen aus, sondern sie wirken auch jünger, heiter-gelöst und neigen zu weiblichen Zügen. Die anderen dagegen scheinen älter, mürrisch-ernst und mehr männlichen Ausdruck zu haben. So erleben wir staunend, dass die ganze Gemütsskala zwischen Freude und Schmerz, die Lebenszustände zwischen jung und alt, die Polarität männlich/weiblich an die Formelemente der Wölbung und Höhlung gebunden sind.
Noch spannender wird die Sache, wenn wir unsere Erfahrungen an diesen extremen Formversuchen auf unsere Wahrnehmungen draußen in der Natur übertragen. Wir kennen ja schon die runden, quellenden Formen, die so viel Verwandtschaft mit dem wässerigen Element verraten; wir wissen, wie die Natur sie «anwendet», um Lebewesen eine embryonale Ruhezeit zu bereiten, die ja oft, z.B. bei den Blattknospen der Bäume, nahezu ein Jahr beanspruchen kann. Wir können erleben, wie diese kugelartigen Gebilde dann aufbrechen, sich differenzieren, ausbreiten, um zuletzt als vertrocknete Blätter, aufgesprungene Zapfen, zerfressenes Holz, knochige Gerippe usw. den Charakter der ausgehöhlten, verzehrten Formen anzunehmen, die wir vorher plastiziert hatten. Die Kräfte des «Formverzehrens» sind tatsächlich Alterungskräfte, die oft am Ende einer Entwicklungsreihe von Lebewesen deutlich hervortreten.
Besonders lässt uns aufhorchen, dass das «Alt- Werden» im Menschenantlitz zugleich ein «Wach-Werden» zur Erscheinung bringt. Wir bekommen einen unmittelbaren Zugang zu den Worten Fortlages und verstehen, dass Bewusstseinsbildung den Abbau von Lebenskräften notwendig macht: «Das Bewusstsein ist ein kleiner und partieller Tod, der Tod ist ein großes und totales Bewusstsein, ein Erwachen des ganzen Wesens in seinen innersten Tiefen.»[11]Ein Blick auf Plastiken unserer Zeit macht deutlich, dass die «formverzehrenden» Kräfte in ihnen überwiegend sind, oft bis an die Grenze der Zerstörung gehend oder nur noch Spuren von Stofflichkeit hinterlassend. Welchen Eindruck würde eine solche Plastik auf unserem Schulhof machen? Dass auch gegenteilige «Formversuche» gemacht werden, beruhigt uns nur wenig. Umso überzeugender wirkt das Zusammenklingen der Gegensätze oder das «Öffnen» der Form, ohne dass sie sich selbst an den Raum verliert.
Es ist selbstverständlich, dass in der Aufgabenstellung nun versucht wird, einerseits die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse zu nutzen, andererseits den Ausgleich zu suchen zwischen den Polaritäten und dadurch zu einer Steigerung in der Formbildung zu kommen. Dabei kann und soll ruhig vergessen werden, was wir vorher gelernt haben, damit unsere Arbeiten nun wirklich in ein künstlerisch-schaffendes Element eintauchen. Kommt aber einmal die Frage, warum das Kinderköpfchen, um das sich eine Schülerin bemüht, nicht recht kindlich werden will, so liegt es sicher daran, dass die Gesamtheit der Formen nicht genügend die Wölbungen hervorhebt oder bei den Augen zu tiefe Hohlflächen entstanden sind, die den Blick eben erwachsen, wach, bewusst erscheinen lassen. Wenn dann ein verstehendes «Aha« antwortet, ist die Bemühung des Lehrers nicht ganz umsonst gewesen...
Zuletzt sei bemerkt, dass die Hände als einziges Organ der menschlichen Gestalt sowohl Rundung und Streckung als auch Höhlung und Wölbung in großer Vollkommenheit, das heißt Ausgewogenheit in sich zusammenfassen. Kein Tier ist darin dem Menschen gleich. Für die Schüler kann es von Bedeutung sein, wenn ihre Aufmerksamkeit einmal auf ein solches «offenbares Geheimnis» gelenkt wird.


Formen sind im unmittelbaren Bereich der Hände tastbar; außer deren Reichweite übernimmt das Auge die tastende Funktion der Hand. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Licht und Schatten, Hell und Dunkel einer Fläche, einer Form. Durch die Phänomene des Hellen und Dunklen in allen Naturerscheinungen tut sich uns eine neue Welt auf, die für unsere Augen eine unbewusste, aber wichtige Bedeutung hat. Nicht nur das Alte Testament stellt an den Anfang der Erdentwicklung die Schöpfung des Lichtes aus der Finsternis, sondern auch das Johannesevangelium, das am intensivsten in die Schaffung einer zukünftigen Welt führt, beginnt mit dem Lichte, das in die Finsternis hineinwirkt und wesensgleich ist mit dem Leben, das Christus den Menschen bringt zur Belebung der ersterbenden Erde. Mit dem, was sich als eine neue innere Seelenkraft im Jugendlichen der Reifezeit regt, die den auf der Erde angekommenen Körper durchdringen und beleben soll, klingt unmittelbar zusammen, was im Beginn des Johannesevangeliums geschildert wird. Ein Funke des Göttlich-Geistigen ergreift das Stofflich-Leibliche; wird dieses Licht das Dunkle erhellen können? Die Auseinandersetzung mit Licht und Finsternis im Hell-Dunkel-Zeichnen kann diesem dramatischen Kampf Ausdruck verleihen und ein tragendes Element in diesem Lebensalter sein.



Vor uns sitzt eine halbe Klasse von Neuntklässlern. Zeichnen? ... Wozu das? ...

Suchen wir zuerst die Polaritäten auf! Das «tiefste» Dunkel, das schon durch das Wort der Tiefe zugeordnet wird, finden wir in einer Höhle, in die das Tageslicht nicht eindringen kann. Stehen wir unbewegt im Dunkel, so erlischt das Erleben des Raumes; wenn wir die Höhle nicht kennen, können wir ihre Weite, ihre Enge ohne ein Licht nicht ermessen. Wenn uns dazu absolute Ruhe umgibt, nicht unterbrochen vom Tropfen eines Rinnsals, versinkt auch weitgehend das Bewusstsein für die Zeit. Dunkelheit führt aus Zeit und Raum heraus. Die Quelle unseres Tageslichtes dagegen, die Sonne, ist unserem Auge nicht zugänglich; wir können sie nur bei starker Abschattung anschauen. Und doch gibt es Lichterlebnisse von unermesslicher Helligkeit, die dem Erleben tiefster Dunkelheit in einer Höhle polar entsprechen. Von einem unbeschreiblich hellen, aber nicht blendenden, sondern den Menschen wohltuend einhüllenden Licht berichten Menschen, deren Seele bei einem Unfall, Absturz in den Bergen, beim Ertrinken oder anderen Grenzfällen menschlicher Existenz aus dem Körper gelockert, gelöst wurde, wie es beim Schlafen der Fall ist, aber ohne dabei das Bewusstsein zu verlieren. Dadurch konnten sie über diese Eindrücke aussagen.[12]

Dunkelheit und Helligkeit stehen also an der Schwelle zu einem anderen Bewusstsein, das uns aus unserem Tagesleben herausführt und in eine angrenzende Region überleitet. Jetzt beginnen wir zu verstehen, warum wir in einem abgedunkelten Raum besser einschlafen können, denn auch im Schlaf überschreiten wir die Grenze zu einem anderen Bewusstsein außerhalb von Raum und Zeit. Auch die Angst vieler Menschen vor der Dunkelheit wird verständlich, weil sie den drohenden Schwund ihres Ich-Bewusstseins durch Verlust der Helligkeit dumpf empfinden und diesem nichts entgegensetzen können. Aber wir werden auch aufmerksam auf die «Hymnen an die Nacht» eines Novalis, der in dem Versinken der äußeren Welt in die Nacht den Keim eines neuen, übersinnlichen Bewusstseins gefunden hat. Auch die Dämmerung mit all ihren Grautönen erscheint als Übergang einer Daseinsform in eine andere: «Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig, ätherische Dämmerung milde zu begrüßen...», lässt Goethe Faust beim Erwachen nach erquickendem Schlaf aussprechen.[13] Überall finden wir das Motiv der Erfrischung, Belebung im Zusammenhang mit Hell und Dunkel, wenn wir unseren Blick ausdehnen und einmal auf diese so alltäglichen, aber sehr im Unbewussten, Unbemerkten liegenden Erscheinungen aufmerksam geworden sind. Und immer werden wir in Prozesse des Übergangs, also nicht des Seins, sondern des Entstehens, Werdens, Fortschreitens geführt. Wie beim Plastizieren, so können wir auch hier auf eine wirklich unendliche Fülle von Phänomenen stoßen, für die unsere Neuntklässler einen durchaus offenen Sinn haben, und es ist keine Kunst für den Lehrer, ihnen zur Beobachtung für den Nach-Hause-Weg «Hausaufgaben» zu geben, über die ein aufgeschlossener Schüler tags darauf manches zu erzählen weiß.
So nehmen wir endlich die schwarze Kreide und beginnen mit einer einfachen Übung, bei der das Helle, das auf der oberen Hälfte des weißen Blattes verbleiben soll, übergeht in ein Dunkel, das sich nach unten zu verdichtet, das absinkt und im Verdichten als schwer empfunden werden kann. Dabei machen wir schon interessante Entdeckungen: Zeichnen wir zu viel, verdrängt das Dunkle das Helle. Das Dunkle muss also zurückgehalten werden und eine aufnehmende Gestaltung annehmen, sonst kann das Helle nicht mitspielen. Bei einer zweiten Übung soll dasselbe in abgegrenzten Graustufen versucht werden, diesmal so, dass das Helle von der Form des Dunklen wirklich aufgenommen wird.[14]
Beim Betrachten dieser Bilder, die stets alle an der Wand hängen, nehmen wir wahr, dass das Dunkle sich vorzudrängen scheint und das Helle aus der Tiefe des Hintergrundes nach vorne in das Bild eintritt. Es kommt also zu dem Gegensatz oben/unten, von dem wir ausgegangen sind, ein neuer hinzu: Ferne und Nähe; eine dritte Dimension, die Raumtiefe, entsteht! Wo aber besonders feine Übergänge vom Hell zum Dunkel gelungen sind, kann man den Eindruck haben, dass das Helle wie hereinscheint in das Dunkel: Licht ist entstanden! Licht und Raum sind unsere ersten «Errungenschaften», dazu die dunkler werdenden Abstufungen, auf die wir ein neues Thema aufbauen können: z.B. «Licht scheint über die Berge». Bei dem dumpf brütenden oder willens- haft tätigen Schüler wird es meist Nacht werden, bei dem zurückhaltend-wachen eher eine zarte Lichtstimmung, so dass zuletzt eine sehr bewegte, anregend vielgestaltige Bergwelt die Wände unseres Arbeitsraumes schmückt.

Gefragt, was außer Bergen, Nacht, Licht, vielleicht Wolken, noch auf diesen Bildern zu sehen sei, wird kaum ein Schüler die Antwort finden: Es ist die Luft, die einmal klar, einmal dunstig dargestellt ist durch die verschwimmenden oder deutlichen Konturen der Berge. Und wir entdecken, dass auch das Verblassen der Berge in der Ferne eine Wirkung der Luft ist! Nähe und Ferne bringen den Menschen ganz unbewusst in einen Atemprozess hinein: Die Nähe fordert mit ihren klar erkennbaren, deutlich abgegrenzten Gegenständen, mit dem Kontrast von Licht und Schatten auch ein gegenständliches, logisch-klares Bewusstsein. In der Ferne löst sich der einzelne Gegenstand in ein allgemeineres Element auf, dem wir gerne nachträumen; die Schärfe der Schatten verblasst, die Konturen verschwimmen am Horizont mit dem Himmelsgewölbe.
Wir werden also plötzlich durch unsere Zeichenvorgänge auf die Luft aufmerksam, die bei der Gestaltung unserer Bilder eine besondere Rolle zu spielen scheint als Erzeugerin der «Luftperspektive», auf die Assja Turgenieff im Zusammenhang mit der Schraffurtechnik aufmerksam macht.[15] Es entsteht ein raumhafter Eindruck ohne Linearperspektive, die wir im Hell-Dunkel-Gestalten peinlich vermeiden. Dadurch erscheinen unsere Zeichnungen auch wie über das Natürliche hinausgehoben, noch wie in einen urzeitlichen Schöpfungsvorgang von oft elementarer Kraft eingebettet.
Der aufmerksam übende Lehrer bemerkt an sich selbst, dass die Schraffur, von der weiter unten berichtet wird, am besten gelingt durch eine aufrechte, den Körper selbst stützende Haltung, wodurch sich ein ruhiges, rhythmisches Atmen bei der Arbeit einstellt. Der zeichnende Arm wird lockerer, wenn er von einer aufrechten Wirbelsäule gleichsam getragen wird. Dadurch kann sich der Atem freier entfalten. Diese «straffe Lockerheit» beim Zeichnen wirkt zusammen mit dem Sehen der Strichfolgen durch die Augen; Weiß-, Schwarz- und Grautöne sind für sie ernüchternde, klärende, oft sehr dramatische Erlebnisse. So bildet die entstehende Zeichnung über Auge und Hand mit dem Atem eine Einheit, die, sobald sie sich einstellt, auf die Seele des Zeichnenden beruhigend und aktivierend zugleich zurückwirkt. Atem und Seelentätigkeit sind ja innig miteinander verwoben.[16] Der Atem wird bei seelischen Erregungen stark in Mitleidenschaft gezogen, wie auch die Seelenstimmung vom Atem beeinflusst werden kann. Das griechische Wort «pneuma» bedeutet «Hauch, Atem, luftartige Substanz» und «Geist Gottes» zugleich. Im Alten Testament wird berichtet, wie Adam eine «lebendige Seele» wurde, indem Gottvater ihm den lebendigen «Odem» (Atem) einblies[17], während der Sterbende mit dem letzten Atemzug seine Seele aushaucht. Im rhythmischen Ein- und Ausatmen lebt die Seele; im Gesang äußert sie sich unmittelbar, vom Atem getragen.
In diesem Lebensalter der Erdenreife ist Hell- Dunkel-Zeichnen, wie es hier charakterisiert wird, ein echtes Therapeutikum, weil die Atmung mit den mehr feinfühligen, zurückhaltenden, nicht aus dem Schwung kommenden, sondern fast mechanischen Bewegungen von Arm und Hand innig zusammenwächst. Dadurch kann die Seele mit Hilfe des Rhythmisch-Luftigen das mittlere Leibessystem durchdringen und beleben. Ein ganz ähnlicher Prozess findet statt beim Klavierspiel, wo das Seelische durch die Hand des Künstlers vermittels feinster, aber toter Mechanik zum Erklingen gebracht wird.
Kann der Lehrer zu solchen Erkenntnissen, die zugleich auf eigenen Erfahrungen beruhen, vordringen, erwirbt er dadurch die innere Sicherheit, mit den ja manchmal auch rüpelhaft auftretenden jungen Herren und den oft ebenso koketten jungen Damen verständnisvoll zu zeichnen.
Kehren wir zu unseren Zeichnungen zurück!

Unversehens sind wir durch Licht, Luft, Berge ins Reich der Elemente gelangt, die nun durch Bäume, Wolken usw. Schritt für Schritt erweitert werden; auch das Wasser kommt hinzu, das bereits gekonnte Technik und Übung voraussetzt, den Zeichnungen aber durch die Spiegelung einen neuen Reiz hinzufügt. Der besondere Gesichtspunkt ist aber stets, wie Licht und Luft um die Dinge weben und einer Landschaft, mag sie noch so einfach gestaltet sein, ihre eigenartige Stimmung verleihen. Hier entsteht «Stimmung» durch Lockerheit und Lebendigkeit in der Strichführung, durch wache Aufmerksamkeit beim Gestaltungsvorgang, Erfindungsgabe und geduldiges Üben, - nicht etwa durch Heraufschlagen von triebhaften Regungen des Leiblich-Unbewussten.
Eine neue Stufe wird erreicht, wenn es gelingt, den fest umgrenzten Raum zu erarbeiten und das Licht zu gestalten, das durch ein Fenster in den Innenraum einfällt. Hier wird uns bewusst, dass Licht und Schatten unsichtbar sind und nur an den Wänden selbst sichtbar gemacht werden können - so wie die Seele unsichtbar ist und nur wahrgenommen werden kann an dem, was der Mensch in irgendeiner Art sinnlich erfassbar äußert.
Wir sind einen Weg gegangen, der aus der Weite der Landschaft in den Innenraum führt und nun schon den Übergang zur 10. Klasse bildet. Während wir uns in der 9. Klasse mit dem Licht auseinandergesetzt haben, das aus dem Kosmos hereinwirkt und die großen rhythmischen Zeitverhältnisse der Erde bestimmt, wenden wir jetzt den Blick dem Licht zu, das dem Irdischen selbst zugehört: Wir gestalten den Marktplatz, der vom Schein der Lampen erhellt wird, den inneren Widerschein des Lichtes in einem Kristall, das Feuer, die Kerze; auch die Schneelandschaft darf hier genannt werden, weil die Erde im Kleide des Schnees heller leuchtet als der Himmel selbst. Die Thematik führt uns also aus der Weite in die Nähe, aus dem Kosmos zur Erde, den Entwicklungsschritten des jungen Menschen folgend.
Das gestalterische Mittel zur Darstellung von Licht, Luft, Wasser, aber auch der Härte des Festen, ist die Schraffur. Suchen wir nur den Gegenstand darzustellen, so sollten wir uns der Linie bedienen, die diesen klar konturiert, unmissverständlich wiedergibt. Dieser jedoch steht in einem abstrakten, luftleeren Raum: weder Tag noch Nacht, weder Sommer oder Winter sind durch Umrisslinien zu erfassen; das Spiel des Lichtes und der Dunkelheit in Luft und Wolken erschließt sich durch die Fläche, die im Verdichten und Auflösen, durch Abgrenzung und Übergang in elementare Prozesse hineinführt. «Was um die Dinge herum ist, was ins Ätherische führt, das sollte man suchen...», so sagte Rudolf Steiner, wie A. Turgenieff aus ihrer Arbeit im Hell-Dunkel berichtete.[18]
Die Schraffur, die konsequent in der Richtung von rechts oben nach links unten geführt wird, ist ein neuartiges künstlerisches Mittel, das von R. Steiner beim Bau des alten Goetheanum für die Radierung der farbigen Glasfenster entwickelt wurde. Max Wolffhügel berichtet, dass das Hell-Dunkel-Zeichnen «als methodische Übung in der von R. Steiner angeregten Diagonal-Strichführung vom physiologischen Reifealter an (9. Klasse aufwärts) im Epochenunterricht eingeführt» wurde.[19] Durch die Strichführung, bei der die einzelnen Striche nicht verfließen, sondern hart nebeneinander bestehen bleiben, entsteht von Strich zu Strich ein starker Schwarz-Weiß-Kontrast. Dieser feuert so an, dass von der schraffierten Fläche eine aktivierende Wirkung ausgeht im Gegensatz zur weich durch breit aufgelegte Kreide gestalteten Fläche, die mehr den Eindruck des entspannten Ausatmens erweckt. Mit der rechteckigen Pitt- Zeichenkreide («mittel» oder «hart») lassen sich zarteste als auch durch Überschichten tiefste Schwarztöne erreichen.
Es gibt Kunsterzieher, die mit vielen Techniken arbeiten und sagen, man könne sich durch die Schraffur in dieser Weise nicht individuell ausdrücken, alle Zeichnungen sähen ja gleich aus. Natürlich ist es so, dass bei hundert Klavierspielern alles nur nach Klavier klingt; aber schließlich kommt es darauf an, ob man zu Mozart oder Chopin greift, und letztlich vor allem darauf, wie gespielt wird. Der Lehrer wird sehr rasch die einzelnen Schüler nach ihrer charakteristischen Strichführung und nach der Art, wie sie gestalten, an ihren Zeichnungen erkennen, auch wenn sie alle «nur» schraffieren.
Hinter den hier skizzierten künstlerischen Fächern leuchtet mit besonderer Kraft das eingangs zitierte Wort von Hermann Hesse auf. Die Formgegensätze von Ballung und Streckung, Wölbung und Höhlung wurden uns bewusst; wir finden sie an unserer eigenen Leibesgestalt, aber auch überall an den außer uns vorhandenen Gebilden wieder. Ist auch das Helle und Dunkle im Menschen vorhanden? In dem Kontrast von Geist und Leib ist es zu erleben, nicht als «Vergleich», sondern real wirksam in der Kraft des Ausstrahlens, Erhellens, Durchleuchtens, die man im Denken wiederfinden kann; oder in der Kraft des sich Dunkelns, Dichtwerdens, Stoff-Werdens, die man als «Leib» an sich selbst empfindet. Letztlich entdecken wir Licht und Finsternis im seelischen Kontrast von Denken und Wollen, wenn wir uns ernsthaft um solche Erlebnisqualitäten bemühen.[20] Und hier stoßen wir zugleich auf den Gegensatz von Kopf und Gliedmaßen, die sich Denken und Wollen als Organe ihrer Tätigkeit geschaffen haben. Wir können hier erfassen, wie Formen und Hell-Dunkel aus den gleichen Wurzeln entspringen, die Formkräfte äußerlich bildend, was im seelischen Bereich innerlich tätig ist.
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;
Denn was innen, das ist außen. (Goethe)
Die Frage, ob man mit Schülern solches in diesem Lebensalter besprechen kann, ist so nicht zu beantworten - kommt es doch ganz auf Situation, Stimmung und Menschen an, ob sich etwas daraus entwickeln lässt. Wichtig ist, dass der Lehrer in sich selbst solche Verbindungen zwischen Mensch und Welt finden kann, das gibt den tragenden Untergrund für den Unterricht.
Kehren wir nochmals zu den Polaritäten zurück, z.B. Schwarz und Weiß. Wo finden wir ihre Einheit? Werden beide vermischt, geht die Polarität und damit die fruchtbare Spannung verloren; es entsteht Grau. Grau ist der äußere Ausdruck für ein statisches Verhältnis, das dem Sitzen entspricht: schwer, lastend, unbeweglich, träge. Werden die Pole von der Mitte aus angezogen und in Grautönen gestaltet, Schwarz und Weiß mit einbeziehend, so entsteht ein lebendig anregender Prozess, immer aufs Neue wandelbar, in immer neue bildnerische Räume gestalterisch fortschreitend. Selbst in der Schraffur tritt keine Vermischung ein, sondern der Kontrast bleibt erhalten durch die dunklen Strichlagen auf weißem Grund, starke Spannung, aber gleichzeitig durchlässige Lockerheit erzeugend.
Genauso ist es beim Plastizieren: Wird die hohle und gewölbte Fläche zum «Ausgleich» gebracht, entsteht die gerade Ebene, die spannungslos ist, keine plastische Qualität mehr hat, sondern nur noch die unbestimmte Ausdehnung nach allen Seiten. Die Einheit, in der die Pole ergriffen werden und zu einer Gestaltung verschmelzen, ohne ihre Eigenart auszulöschen, entsteht durch Erregung jener Kraft der Mitte, die durch die schöpferische Bändigung der Pole zu einer Steigerung führen kann. Unser Seelenleben ist grundsätzlich nach zwei Seiten hin orientiert, nicht nur während der Zeit der Erdenreife. Aber dem Erwachsenen steht jene «Kraft der Mitte» ganz anders zur Verfügung, vorausgesetzt, daß er sie in sich entwickelt hat! Sie kommt erst um das 21. Lebensjahr zur Reife.
So muss also der Erzieher zu Beginn des 3. Jahrsiebts auf zwei Notwendigkeiten sein Augenmerk richten: Einerseits gilt es, die neuen, keimhaft-zarten, nach außen oft noch ganz von einer spröden Schale verborgenen Seelenkräfte hervorzulocken, ihnen die Nahrung zu geben, durch die sie sich entfalten können. Andererseits muss diese «Kraft der Mitte», das individuelle Ich des jungen Menschen mehr und mehr wirksam werden, damit es um das 21. Lebensjahr die Souveränität erworben hat, sich selbst zu bestimmen. Es entspricht einer inneren Realität, dass man früher den jungen Menschen erst mit 21 Jahren mündig gesprochen hat.
Beide Prozesse aber - Entfaltung der Seelenkräfte und Hervorbringen des Ich - gehen Hand in Hand. Denn das Ich kann nur tätig sein, wenn es in eine Polarität hineingestellt und von dieser herausgefordert wird. Es gebiert sich aus einem inneren Spannungsverhältnis, das der Mensch aktiv ergreift. Das «Ich» gibt es eigentlich noch nicht, es wird fortwährend durch innere Anstrengung und Tatkraft. Es erstirbt gleichsam in seelischer Trägheit. Insofern lebt es in einem äußerst labilen, durch Kräfteverhältnisse jederzeit zu steigernden oder verlöschenden seelischen Zustand, der mit dem Wort «Geistesgegenwart» am treffendsten charakterisiert ist.
Wir wollen uns diesen Vorgang noch deutlicher ins Bewusstsein rücken und einmal betrachten, wie der Mensch geht. Das Gehen ist nämlich eine besondere Äußerung des Ich. Hier können wir das Durchtragen einer Mitte durch Polaritäten leiblich genau verfolgen und erleben.
Im Gehen wird bei jedem Schritt die Schwere des Körpers abwechselnd nach rechts und links verlagert und die Wirbelsäule dazwischen trotzdem ruhig vorwärtsgetragen. Dazu kommt, dass jeder Fuß genau das Gegenteil von dem anderen tut: Löst sich der rechte vom Boden, so übergibt sich der linke der Schwere; trägt der linke die Last des Körpers, so ist der rechte davon befreit. Greift der eine nach vorne aus, so bleibt der andere im selben Maße zurück. Die Arme gleichen diesen Rhythmus mit gegen-seitiger Bewegung aus. Durch rhythmisches Ineinandergreifen polarer Prozesse, die sich durch den Wechsel rechts/links, hinten/ vorne vollziehen, entsteht das Schreiten als ein ganz labiler Vorgang zwischen dem Sich-Hin- geben an die Schwere und deren Überwindung. Kein Tier hat ein so gespanntes, aber frei ausgewogenes Verhältnis zwischen Himmel und Erde wie der Mensch beim Schreiten. Dieses entsteht aus einem Impuls der sich aufrichtenden Mitte.
Im Sitzen wird die Polarität des Gehens aufgelöst, der labile, aktive Zustand, der fortwährend aufs Neue entsteht, in einen stabilen, trägen Zustand verwandelt. Die Worte bestehen - begehen - besitzen sind Ausdruck der hier gemeinten Kräftewirksamkeit: eine Prüfung bestehen - ein Fest begehen - ein Haus besitzen!
Haben wir diese leiblichen Prozesse in ihrer Bedeutung für den Menschen erfasst, so wird es uns einleuchten, dass im seelischen Leben innere Bewegungen entstehen, die die Mitte herausfordern, wenn wir die entsprechenden Mittel dafür finden.
Hast du, Freund, in deiner Natur
Kräfte, die sich widersprechen,
Wolle sie nicht aneinander brechen!
Behalte sie alle! Verschmelze sie nur!
(Conrad Ferdinand Meyer)
Im soeben charakterisierten Schreiten des Menschen wird ein Gleichgewichtszustand gebildet, der nur in einem ständigen Auswiegen körperlicher Schwere und der dagegen angehenden Körperkraft geschaffen werden kann. Das geschieht in der Bewegung. Im Stehen wird dieses Gleichgewicht geradezu ideal. Schädeldecke und Fußsohlen befinden sich übereinander auf der Schwerelinie, die durch den Menschen hindurchgeht und auf den Erdmittelpunkt gerichtet ist. In dieser Ruhestellung befindet sich der Körper in völliger Symmetrie. Wollen wir ausschreiten, kann die Bewegung nur entstehen durch Stören dieses Verhältnisses. Indem wir einen Fuß vorsetzen, beginnt all das in den Fluss einer Fülle von Asymmetrien zu geraten, die sich ganz und gar
polar «widersprechen», wie oben beschrieben worden ist. Nur dadurch ist ein Vorwärtskommen möglich.
Entscheidend ist dabei die Mitte, die unsichtbar diese asymmetrischen Abläufe rhythmisch durchträgt. Der Rhythmus erscheint hier als die Möglichkeit, die Asymmetrien gleichsam vor dem Auseinanderfallen zu bewahren; die innere Haltekraft der Mitte bedient sich des Rhythmus, um ihr Vorwärts-Wollen auf die asymmetrischen Körpervorgänge zu übertragen, ohne die Führung über diese zu verlieren. Das Schreiten wird dadurch zur leiblichen Realisierung des Ich des Menschen.
Ist die Funktion des Schreitens nur durch Asymmetrie möglich, müssen auch ihre Werkzeuge asymmetrisch sein. Ein Fuß allein kann das Vorwärtsschreiten nicht bewältigen; er ist ohne die Er-Gänzung durch sein Spiegelbild hilflos. Organisch sind beide aber so aneinander gebunden, dass diese Ergänzung, wenn sie beim Laufenlernen des Kleinkindes einmal errungen wurde, wie von selbst geschieht. Müssten wir ständig die Einheit dieser Asymmetrien bewusst vollziehen, wären wir während des Gehens nicht frei für andere Erlebnisse wie das Genießen der Landschaft bei einer Wanderung oder die Ausführung einer Arbeit, die das Bewegen der Gliedmaßen erfordert.
Bei der Betrachtung des mittleren Systems, dem die Arme und Hände zugeordnet werden, stoßen wir auf eine ganz andere Organisation. Hier kann durchaus eine Hand allein eine selbständige Funktion ausführen, auch die Tätigkeit der anderen ersetzen, wenn es nottut - obwohl jede Hand für sich asymmetrisch gebildet ist. Bei weiterer Beobachtung erstaunen wir über die Freiheit der Bewegung, die dadurch für die Tätigkeit des Menschen rein organisch gegeben ist. Dieses hohe Maß an Freiheit ur- ständet in einer stark ausgeprägten, aber gleichzeitig ebenso zurückhaltenden Mitte, der Wirbelsäule. Diese stützt und trägt durch ihre streng symmetrisch nach rechts und links ausgebildete Gestaltung die Asymmetrie der beweglichsten und freiesten Organe des Menschen, seiner Hände. Auch von einer rhythmischen Abfolge von Bewegungen, wie sie für die Beine beim Gehen notwendig ist, haben sich die Hände befreit; und doch sind sie verbunden mit der Atmung, dem Blutkreislauf, den eigentlich rhythmisch organisierten Systemen des «mittleren Menschen».
In der Atmung findet das Seelische organischen Ausdruck; darauf ist schon hingewiesen worden. Aber die Seelenregungen können sich auch in körperlicher Bewegung ausleben, wie es beim kleinen Kind spontan, beim Tier instinktiv der Fall ist. Hier greifen sie stärker, aber äußerlicher in die Leiblichkeit ein. Der Atem ist körperlich gebundene Seelenwirksamkeit, die Bewegung der Arme und Hände steht ihr frei zur Verfügung.
Für uns ist wesentlich, dass die Seele in den rhythmischen und auch den Bewegungsorganen des Menschen zugleich leiblich tätig ist; überall wirkt sie in asymmetrischen Formen und Kraftverhältnissen. Im seelischen Bereich ist dadurch ungebändigte Turbulenz, Haltlosigkeit möglich, denn die «Mitte» wartet verborgen in weiter Ferne, ob sie zum Eingreifen in den Kampf aufgerufen wird oder ob sich der Mensch von den Kontrasten seiner Triebe und Begierden, Wünsche und Abneigungen bestimmen lassen will. Je kraftvoller die Auseinandersetzung, die innere Bewegung und Dramatik ist, desto stärker wird die Asymmetrie zur Erscheinung kommen und, wie beim Schreiten, die harmonisierende Mitte herausgefordert.
Im Künstlerischen kann das alles sinnlich wahrnehmbar werden: das sich verscheinende, verflüchtigende Helle - das sich ballende, abgrenzende, in die Schwere sinkende Dunkle; die von innen herausdrängende, die Form auflösende - die von außen aushöhlende, verhärtende Kraft in der Plastik; die ausstrahlende Frische des Gelb, die geheimnisvoll einhüllende Kühle des Blau; das Fortdrängende und Hemmende in der Bewegung - man kann immer neue, überall in der Welt, im Menschen schaffende Polaritäten entdecken! Sie durchdringen alle Vorgänge in Raum und Zeit wie mit einem großen kosmischen Atem, aber auch sie werden gehalten und getragen von einem verborgenen, geheimnisvollen Gesetz unerschütterlicher Harmonie.
Welche Wesenheiten offenbaren sich durch solche Kräfte? R. Steiner hat sie plastisch und malerisch herausgearbeitet im alten Goetheanum in ihrer gegensätzlichen Wirkenskraft, dazwischen die schreitende Gestalt, die in sich die geistige Mitte trägt, um beide in ihre Schranken zu weisen. Deutlich ist ihre asymmetrische Gestaltung zu sehen, ihr polarer Aufbau, das Ineinanderströmen der Kräfte in der Mittelgestalt, die sich in asymmetrischer Haltung, die «Mitte» kraftvoll erzeugend, dem Betrachter darstellt.
Wir tragen diese Gegensätze in unserer Seelenorganisation, weil wir Anteil haben an diesen Weltenmächten. Von hier aus strahlen sie über unsere Leibesgestalt aus. Wir haben uns überzeugt, wie notwendig sie für uns sind, sonst könnten wir z.B. nicht laufen. Unserem Seelenleben geben sie die innere Spannkraft und Weite. Sie müssen nur ihren Meister finden; Überwindung heißt nicht Zerstörung, sondern Halte-Kraft bilden, den Zaum anlegen, zügeln.
Denn wie sollten wir sonst eine Zeichnung machen, wenn es Schwarz und Weiß nicht mehr gäbe, wie sollten wir leben ohne Tag und Nacht, ohne Denken und Wollen?
Im Tagebuch einer Schülerin fand das Ich-Erlebnis auf folgende Weise einen bildhaften Ausdruck:
«Eine neue Welt ist mir offen, geöffnet worden, in die ich manchmal hineinschauen darf, [in der ich] sein darf. Es ist eine unendliche Tiefe, in die man da eintauchen kann. Am Sonntag... habe ich es das erste Mal erleben dürfen. Hab es an dem Bild des goldenen Stabes mit den zwei Schlangen, der weißen und der schwarzen, ganz deutlich gesehen. Es war ein unendlich großes Licht in mir; vorher habe ich geschlafen, aber jetzt bin ich aufgewacht.» (A.M., 16 3/4 J.)
In den bildnerischen Epochen der 11. und 12. Klasse wird das vorher Erlernte in die Tiefe geführt und von den Schülern freier angewendet im Malen, Schnitzen und Steinhauen.
Hat man Gelegenheit, Hell-Dunkel-Zeichnungen neben farbigen Malereien auf sich wirken zu lassen, so erfährt man den ungeheuren Schritt von der ernüchternden, aber belebten Strenge und Zurückhaltung im Hell-Dunkel zur Weite und befreienden Gelöstheit der Farbe. Seelische Tiefen und Höhen nehmen Gestalt an in den Farben, die Goethe als «Taten und Leiden des Lichtes» bezeichnet, von der geheimnisvollen Bläue bis hin zum Strahlen des Gelb.
Das Malen ist in anderen Zusammenhängen ausführlich dargestellt worden.[21] Es soll daher nur in kurzen Zügen angedeutet werden, wie es sich in den hier charakterisierten Aufbau eingliedert.

Die Thematik führt, nachdem die Schüler durch malerische Grundübungen mit Farbe und Farbklängen wieder vertraut wurden, über die Darstellung von Bäumen, Landschaften, Naturstimmungen und Blumen bis hin zur Gestaltung des Menschenantlitzes in der 12. Klasse. Unbemerkt haben wir dadurch den ganzen Goethe'schen Farbenkreis durchschritten, angefangen von den gegenüberliegenden Farben Gelb/Blau, durch die das Grün zuerst als natürliche Mischung entsteht, das der Gestaltung des Pflanzlichen ganz allgemein zugrunde liegt. Durch das Erleben von Licht und Finsternis im Gelb und Blau ist eine unmittelbare Fortsetzung des Hell-Dunkel der vorausgegangenen Epochen gegeben. Das hinzukommende Rot verdichtet das Grün zum Braun und bewirkt die Festigkeit in den Stämmen der Bäume. Allmählich entfaltet sich eine differenzierte Farbenskala in den Bäumen, die durch die Jahreszeiten gehen, durch Sonnenaufgang und Mondenstimmung; dann klingt der ganze Reichtum der Farbklänge auf in den Blumen und Blüten wie in einem berauschenden Fest. Der Purpur, der im Farbenkreis dem Grün gegenübersteht, bildet die Grundlage für die Gestaltung des «Inkarnat», der Hautfarbe des Menschen; es ist nicht durch Mischung, sondern nur durch Steigerung, durch gesteigertes Zusammenwirken beider Farbströme in konsequentem, behutsamem Schichten der flüssigen Farbe zu erreichen. Wieder haben wir einen Weg, der über Polaritäten, dann deren natürliche Vermischung bis hin zur Steigerung führt; von der Weite des Licht- und Erdenraumes zur Gestaltung des menschlichen Antlitzes, in dem sich zuerst am offenbarsten dessen Individualität ausdrückt.
Gleichzeitig aber sind wir als Malende durch die Werdeprozesse des Pflanzlichen hindurchgegangen: mit dem Grün leben wir im Aufsprossen des Krautes, der Blätter. In der farbigen Vielfalt der Blüten manifestiert sich ein neuer Impuls, der die Lichtkräfte des Kosmos herabträgt und das Grün von Blatt und Stängel zurückdrängt und umwandelt. Als Same erscheint sodann das äußere Wachstum am stärksten zurückgehalten und verinnerlicht, aber die ganze Kraft einer neuen Pflanze lebt in ihm. Im Zusammenhang mit diesem Zustand der «Individuation», des Zurückziehens auf sich selbst, kann man häufig einen purpurartigen Schimmer bemerken an den vorfrühlingshaften Knospen, an aufbrechenden Trieben, an den sich entfaltenden Blättern. Friedrich Schiller fordert den Menschen auf, willentlich bewusst die Schritte zu tun, die in der Pflanze unbewusst als Werdestufen leben: Wachstum - Blüte - Samen. Sie entsprechen beim Menschen einem Fortschreiten vom Leiblichen zum Seelischen und Geistigen. Schiller sieht, wie die Pflanze äußerlich in ihrer Gestalt stufenweise dar lebt, was vom Menschen verinnerlicht werden kann und für ihn dadurch ein Höchstes bedeutet:
Suchst du das Größte, das Höchste,
Die Pflanze kann es dich lehren, -
Was sie willenlos ist,
Sei du es wollend, - das ist's!
Hat es einen Sinn, solche theoretischen Abschweifungen zu machen? Abgesehen davon, dass in der Biologie der 11. Klasse Zellenlehre und Botanik einen Schwerpunkt bilden und in der 12. Klasse «alle Gebiete der Naturkunde zu einem großen Ganzen mit der Menschenkunde» zusammengeschaut werden[22], kann man ersehen, wie in den künstlerischen Epochen aus dem Meer der Form-, Hell-Dunkel- und Farbphänomene die Welt auftaucht und sich gestaltet, in der wir leben, in die wir einverwoben sind, von der wir selbst ein Teil sind - dies aber nicht nur ökologisch gesehen, sondern in viel tiefere Daseinsschichten hinabreichend.
So ist Kunst nicht etwas, das zu dem praktischen und nützlichen Bereich unseres Lebens verschönernd hinzutritt, sondern zu den geheimnisvollen Werdeprozessen führen möchte und führen kann, aus denen sich unsere Welt auch heute noch immerfort erschafft und erhält. «Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar», so sagte es Paul Klee. Durch den gestaltenden Menschen werden Kräfte und Prozesse sichtbar gemacht, die sonst unsichtbar, verborgen blieben. Bedenken wir die pädagogische Aufgabe für die Oberstufe, ein umfassendes Interesse für die Erscheinungen der ganzen Welt zu gewinnen, so wird einleuchtend, wie dieses durch künstlerische Übungen geweckt werden kann.
Der plastische Strom wird in der 11. Klasse durch das Schnitzen, in der 12. Klasse durch das Steinhauen fortgeführt und vollendet. Die Themen für die Gestaltung kreisen um den Menschen, oder es sind gegenstandslose Motive, reine Formen, die nicht dem Bereich des Natürlichen zugehören. Die Steigerung bringt besonders der Werkstoff und der Gestaltungwille des jungen Menschen.

R. Steiner sagte einmal über den Ton, dass im tastenden Behandeln der weichen plastischen Masse die Bedingung für das Verständnis der Gestaltungskräfte, des Lebendigen liege.[23] Tatsächlich wird der Ton nicht nur durch den Anteil des Wassers bildsam, sondern auch durch Vorgänge, die ihn in die Nähe eines organischen Stoffes rücken. Holz ist dem seelischen Bereich verwandter; stark auf den seelischen Ausdruck hinarbeitende Kulturen haben deshalb vielfach das Holz für ihre Plastiken verwendet, häufig auch die farbige Fassung, oder den Stein so bearbeitet, wie es dem Charakter des Holzes entspricht, z.B. im europäischen späten Mittelalter. Die Färbung, der Geruch, auch die Struktur der Maserung im Rhythmus der Jahresringe, ja sogar die Härte sind Ausdruck von Kräften, die im Seelischen beheimatet sind.[24]
Der Stein fordert am unmittelbarsten den willenshaften Einsatz der Persönlichkeit heraus. Da gelten nur noch klare, eindeutige Strukturen, die kraftvoll mit dem schweren Fäustel herausgeschlagen werden, um dem toten, harten Stoff die lebendige Form einzuprägen. Unerbittlich bricht das Gestein, wenn der Meißel falsch angesetzt oder eine Schichtung nicht richtig erkannt wurde. In alten Zeiten, z.B. in Ägypten, beugten sich Unzählige dem Willen des einen, des Pharao, der aus der Eingebung durch das Göttliche handelte, um den Tempel mit seinen Statuen aus dem Stein zu schlagen. Heute soll der Jugendliche seine Eigenkräfte erproben und in freier Gestaltung beweisen, was er gelernt hat, und zeigen, was in ihm lebt.
Werden mit dem Übergang in die Oberstufe zuerst die Gesetze des Plastisch-Malerischen entdeckt und erarbeitet, so sollen sie in den obersten Klassen immer mehr zu individuellen Schöpfungen hinführen. Jedes einzelne aus den beherzten Willenskräften entstandene Werk ist einmalig und neu in der Welt. Mathematische Gesetze führen ganz allgemein als Grundlage unseres modernen, naturwissenschaftlich orientierten Bewusstseins in den Gedankenzusammenhang unserer Welt ein; die Gesetze von Form, Farbe, Klang, Bewegung, Rhythmus usw. eines Gegenstandes oder Vorganges führen in den Wirkens- oder Seinszusammenhang all dessen, was uns in unserer Welt unmittelbar umgibt. Beide ergänzen sich; auf das richtige Zusammenklingen beider kommt es an. Hier ist die Aufgabe gewiesen, die sich die Waldorfschule stellen muss:
«Das wird in der Methodik unsere Aufgabe sein, dass wir immer den ganzen Menschen in Anspruch nehmen. Wir würden das nicht können, wenn wir nicht auf die Ausbildung eines im Menschen veranlagten künstlerischen Gefühls unser Augenmerk richten würden. Damit werden wir auch für später den Menschen geneigt machen, seiner ganzen Wesenheit nach Interesse für die ganze Welt zu gewinnen.»[25]So wurde es von R. Steiner 1919 formuliert. Nur in der Zuwendung zur Welt kann der Mensch verantwortlich, d.h. aus Erkenntnis handelnd und sinnvoll gestaltend eingreifen in die Verhältnisse, die ihm anvertraut sind. Dadurch kann er letzten Endes erst seinen eigenen Schwerpunkt in der geistigen Kraft seines Ich finden und daran arbeiten, die Gegensätze in der Welt zu einer Einheit wiederum zusammenzuführen.
Alle von verschiedenen Menschen angefertigten gezinkten Holzkästen werden sich kaum voneinander unterscheiden, wenn sie sauber gearbeitet sind. Das Herstellen von Zinken folgt einem bestimmten Arbeitskanon, der überall der gleiche ist. Die Grundtechniken des Handwerks sind allgemeingültig, man wird stets auf denselben Elementen aufbauen.
Nicht so ist es im Künstlerischen; hier können die Ansätze, Methoden, Zielrichtungen sehr unterschiedlich sein, weil sie nicht auf technischen Gegebenheiten, sondern inneren Anliegen, Erfahrungen, Erlebnissen des Menschen beruhen. Diese können sehr individuell sein. So sind auch die Lehrer, die in der Oberstufe einer Waldorfschule etwa Malen oder Plastizieren unterrichten, geprägt durch ihre eigenen künstlerischen Intentionen. Das müssen sie auch sein - sonst würden sie die notwendige Begeisterung für ihr Fach nicht aufbringen, und es würde der zündende Funke nicht überspringen auf die Schüler.
Aus diesem Grunde haben wir jeweils nur einen Arbeitsbericht über ein Handwerk aufgenommen, während das Steinhauen oder das Plastizieren auf dreierlei verschiedene Weise angesprochen wird. Im Abschnitt «Plastizieren» wird es wie eine Art «Formenkunde» behandelt, die ins Künstlerische führt. In dem Aufsatz «Die Metamorphose-Idee und der Plastizierunterricht in der Waldorfschule» wird besonders die Metamorphose der Form bis in die 12. Klasse hinein beschrieben. Dann taucht das Plastizieren nochmals auf in enger Verbindung mit dem Zeichnen und Steinhauen in dem Bericht über «Steinbildhauerei in Oberstufenklassen». So wird man immer wieder andere Ansätze haben, von denen aus man sich den Grundelementen des Plastischen nähern kann. Diese wird man in jedem Aufsatz in besonderer Art wiederfinden. Wichtig ist, dass von ihnen ausgehend das Formbildende, sich Verwandelnde, sich belebend Gestaltende gesucht wird, weil es für die Erziehung im 3. Jahrsiebt notwendig ist, besonders in der Reifezeit. Hierzu sollen unsere Arbeitsberichte Anregungen geben.
Das Hell-Dunkel-Zeichnen ist eingefügt worden, weil es eine engere Einheit mit dem Plastischen bildet; beide wurzeln im Ätherisch-Elementarischen: das Plastizieren im Wässerig- Feuchten, das Hell-Dunkel im Luftig-Licht- haften; Formen sind von Licht und Schatten nicht zu trennen, Hell und Dunkel nicht vom Formbilden und -auflösen. Für die künstlerische Gestaltung des Holzes haben wir ein besonderes Beispiel gewählt, das vielleicht deshalb extrem ist, weil es dem Prüfungsbereich des Abiturs entnommen ist. Man kann aber erleben, wie das, was an einer Waldorfschule durch viele Schuljahre hindurch gepflegt und geübt wurde, dann auch in freien künstlerischen Gestaltungen sich niederschlägt, die den Charakter des individuellen Ausdrucks, der persönlichen Verbundenheit mit ihrem Schöpfer in starkem Maße zeigen. Das kommt auch durch die beigegebenen schriftlichen Äußerungen der Schüler zum Ausdruck. Gerade dadurch werden Zielrichtungen sichtbar, die sonst, wenn der Schüler schon nach der 12. Klasse die Schule verlässt, noch nicht in solcher Reife offenbar werden. Dasselbe ist zu sagen zu den letzten Schreinerarbeiten (im 3. Teil «Die Schreinerepochen«) und zu der letzten Abbildung einer Steinarbeit aus dem 4. Teil «Vom Arbeiten in Stein».
Das Malen, das in den obersten Klassen einen besonderen Schwerpunkt bildet, ist nur kurz umrissen worden (4. Teil, «Steigerung», S. 239). Hier sei auf das Buch von M. Jünemann und F. Weitmann verwiesen, das den gesamten Umfang des Malens in der Waldorfschule grundlegend aufzeigt.
[1] R. Steiner, Theosophie, GA9
[2] S.M. Joseph, In den Elendsvierteln von New York
[3] H. Frieling, Mensch und Farbe
[5] Siehe 1. Teil „Entwicklung des Bewegungsorganismus“, ferner R. Steiner, GA 303, 11. Vortrag
[6] R. Steiner, GA303, 13. Vortrag
[7] E.A.Karl Stockmeyer, Rudolf Steiners Lehrplan für die Waldorfschulen
[8] Siehe Fußnote 4
[9] Die folgenden Abbildungen sind frei nach Plastiken von Schülern gezeichnet.
[10] R. Steiner, GA 293, 10. Vortrag und GA 294, 7. Vortrag
[11] Karl Fortlage (1806-1881), Acht psychologische Vorträge, Jena 1869, zitiert nach R. Steiner, Von Seelenrätseln, GA 21
[12] Dr. R.A. Moody, Leben nach dem Tod, und Hampe, Sterben ist doch ganz anders, Freiburg: Kreuz Verlag, 1993
[13] J.W. v. Goethe, Faust II, 1. Akt
[14] Die folgenden Zeichnungen sind Schülerarbeiten der 9. Und 10. Klasse.
[15] A. Turgenieff in. Rudolf Steiners Entwürfe für die Glasfenster des Goetheanums, 1961
[16] R. Steiner, GA 234, 5. und 6. Vortrag
[17] 1. Buch Mose, 2
[18] Siehe Fußnote 15
[19] Erzuehungskunst, Mai/Juni 1952
[20] R. Steiner, GA 291, 5.12.1920.
[21] M Jünemann/ F.Weitmann, Der künstlerische Unterricht in der Waldorfschule – Malen und Zeichnen
[22] C.v.Heydebrand, Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule
[23] R. Steiner, GA 309, 15.4.1921
[24] Die in Holz geschnitzten Köpfe sind Schülerarbeiten der 11. Klasse.
[25] R. Steiner, GA 294, 1. Vortrag