MICHAEL MARTIN
Es wird jedem einleuchten, dass bei der handwerklichen Tätigkeit durch Bewegung von Körper und Gliedmaßen der Wille des Menschen entwickelt wird. In der Auseinandersetzung mit zweckgebundenen Aufgaben, mit Werkstoffen und Werkzeugen wachsen Mensch und Werkwelt zusammen. Durch künstlerische Arbeit werden aber auch Gemütskräfte wachgerufen; sie geben den Werkvorhaben ihre individuelle, unverwechselbare Gestalt. Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass menschengemäße Gestaltung der Umwelt gesundend auf den Menschen zurückwirkt. Handwerk und bildende Kunst können in der Schule nur so gemeint sein, dass sie dem Kind helfen, zu einer gesunden Persönlichkeit heranzureifen, die ihre Umwelt gesundend gestalten kann.
Unsere Aufgabe ist es nun, die künstlerisch-handwerklichen Unterrichtsgebiete der Waldorfschulen in den verschiedenen Altersstufen aufzusuchen, ihren Aufbau zu beschreiben und zu begründen und ihre Wirkungen darzulegen. Wir unterscheiden dabei grundsätzlich das Werken in der Mittelstufe von den künstlerisch-handwerklichen Fächern der Oberstufe, die mit der 9. Klasse einsetzen. Dazwischen liegt ein entscheidender Wendepunkt: Der Klassenlehrer, der seine Klasse bis zur 8. Jahrgangsstufe geführt hat, gibt sie an eine Vielzahl von Fachlehrern ab, die die heranwachsenden Schüler anders betreuen, als sie der Klassenlehrer vorher geführt hat. Dieser Einschnitt liegt in der Mitte der Reifezeit. Wir richten unseren Blick zuerst auf die vorausgehenden Schuljahre.
In den untersten Klassen steht alles Bildnerisch-Künstlerische noch ganz unter der Obhut und Sorge des Klassenlehrers. Er fügt es nach Maßgabe der Möglichkeiten in seinen Unterricht ein. Man kann mit Recht vermuten, dass es einen besonderen Grund haben muss, wenn das eigentliche Werken erst mit der 5. Klasse beginnt, sich dann von der 9. Klasse ab stark in verschiedene handwerkliche und künstlerische Disziplinen aufgliedert und sich, weiter variiert, durch die Oberstufe hindurchzieht. Offensichtlich liegen hier Schwerpunkte vor, die durch das Heranwachsen der Kinder bedingt sind. So ist es tatsächlich. Das schließt nicht aus, dass auch vorher schon mit Werkzeug umgegangen und allerlei gearbeitet wird. R. Steiner wollte schon für die Neunjährigen das Werken einrichten[1], sicher aber unter anderen pädagogischen Gesichtspunkten. Das gestatteten die damaligen Verhältnisse nicht. Wesentlich ist, dass ein Fachgebiet nicht deshalb erscheint, weil es für die Kinder schön ist, dies oder jenes einmal gemacht zu haben; oder vielleicht, weil die Kinder davon begeistert sind. Ein neues Fach taucht nur dann auf, wenn die Entwicklung des Kindes in einem bestimmten Lebensjahr es erfordert; oder anders gesagt, weil die Auseinandersetzung mit einer bestimmten Tätigkeit eine Unterstützung bietet für den Entwicklungsschritt, der jetzt im Werdeprozess des Kindes notwendig ist. Das setzt voraus, dass der Lehrer einen vertieften Einblick gewinnt in die an äußeren Symptomen ablesbaren inneren Entwicklungsphasen des Kindes. Darüber hat R. Steiner viele pädagogische Vortragskurse gehalten. Auf die Tatsache einer aus der Beobachtung an den Kindern und durch geisteswissenschaftliches Studium gewonnenen Menschenkunde sind Lehrplan und Unterrichtsmethoden aufgebaut.
Zur Werkarbeit hat R. Steiner wohl allgemeine Gesichtspunkte gegeben, aber keinen in Klassenstufen gegliederten Lehrplan aufgestellt, sondern einen solchen mit dem damaligen Werklehrer an der ersten Waldorfschule in Stuttgart, Max Wolffhügel, andeutend in mündlichen Gesprächen entwickelt. Der Unterricht begann in der 6. Klasse. Die Kinder wurden in die handwerksgemäße Holzbearbeitung eingeführt und stellten einfache praktische Gegenstände her. In der 7. und 8. Klasse kam bewegliches Spielzeug dazu. Manche Hinweise auf das, was R. Steiner als Zielsetzung am Herzen lag, kann man aus pädagogischen Vortragskursen entnehmen, zu denen er nach vielen Orten gerufen wurde[2]. Er brachte dann Werk- und Handarbeiten aus der Stuttgarter Schule als Anschauungsmaterial mit und ging darauf während seiner Vorträge ein. Auch in den Konferenzen mit den Lehrern in Stuttgart sind Bemerkungen zum Werkunterricht zu finden[3].
Alle diese Ansätze sind wesentlich, müssen aber vom Geschmack der damaligen Zeit und den gegebenen Verhältnissen befreit und an den altersgebundenen Werdestufen der Kinder weiterentwickelt werden.
Deshalb gehört zum unabdingbaren Rüstzeug des Unterrichtens die Kenntnis der Rhythmen, in denen sich die Entwicklung des Kindes während der Schulzeit vollzieht. Dabei ist der Übergang vom zweiten zum dritten Jahrsiebt von besonderer Wichtigkeit. Er ist ein Schwerpunkt im wahrsten Sinne des Wortes, der sich um das 14. Lebensjahr herum konzentriert. Als «physiologische Reife» ist dieser Zeitraum allgemein bekannt. Rudolf Steiner bezeichnet ihn oft als Zeit der «Erdenreife». Die Geschlechtsreife ist ein besonders ins Auge fallendes Symptom der Entwicklung, die das Kind nun durchzumachen hat. In Wirklichkeit ist dieser Vorgang aber nur ein kleiner Teilbereich eines umfassenden Prozesses, der das gesamte Wesen des jungen Menschen zutiefst ergreift und umwandelt.
R. Steiner gebraucht zur Charakterisierung sehr drastische Worte; er schildert, wie der junge Mensch «mit der Geschlechtsreife tatsächlich aus der geistig-seelischen Welt herausgeworfen» wird; er wird «aus dem geistig-seelischen Leben der Welt herausgeworfen und hineingeworfen in die äußerliche Welt...»[4] Beim Lesen dieser Sätze wird man unmittelbar an die Berichte des Alten Testamentes von der Austreibung aus dem Paradies erinnert, und die Bilder aus dem Oberuferer Paradeisspiel tauchen in der Vorstellung auf[5]. Tatsächlich wird in beiden Quellen bildhaft-real ein Stück Menschheitsgeschichte erzählt, dem wir in jedem Kinde wiederbegegnen, wenn es die «Erdenreife» durchmacht; zugleich aber wird es uns möglich, einen unmittelbaren Bezug zum Handwerk und zum Künstlerischen herzustellen, die im Zusammenhang mit diesem Entwicklungsschritt als Unterrichtsinhalte auftreten. Deshalb sei es gestattet, einen «Umweg» zu dem mythischen Anfang der Menschheitsgeschichte zu machen, um dann desto besser die altersgemäßen Vorgänge und pädagogischen Handhaben verstehen zu können.
Durch den «Sündenfall» bekommen Adam und Eva ein neues Verhältnis zur Welt: ihre eigene Leibesgestalt wird ihnen bewusst. Sie sehen, dass sie hüllenlos sind, und verbergen sich, wie es heißt, in der Kühle des Tages unter den Bäumen. Noch stärker sondern sie sich aus, indem sie sich aus Blättern Schurze flechten und sich damit bekleiden. Denn jedes Einhüllen ist zugleich ein Aussondern, Abgrenzen. Ihr Körper ist bedürftig, schutzlos geworden; daraus entspringt ihre erste handwerkliche Tätigkeit, das Flechten. Die Menschen, der liebevoll sorgenden Hand des göttlichen Vaters entfallen, schaffen sich ihre eigenen Hüllen in Haus und Kleidung und müssen, um ihr Leben erhalten zu können, ihre eigene Willenskraft dafür einsetzen und an der Erde erproben. Ihre handwerklichen Tätigkeiten sind eine logische Folge des Sich-Aussonderns aus dem Eingebettetsein in eine seelisch-geistige Hülle und des Fußfassens auf einer Erde, die dem Leben des Menschen Mühsal und Schmerzen abfordert. Aber dadurch kann sich eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln: Nur wenn sie sich auch aus dem natürlichen Bereich heraussondert, in ihre eigenen Hüllen zurückzieht, kann sie einen eigenen Innenbereich schaffen; Innenraumbildung bedingt Hüllenbildung - durch handwerkliche Tätigkeit! Deshalb hat ein Großteil aller ursprünglichen Handwerke direkt oder indirekt etwas mit «Hüllenbildung» zu tun. Adam und Eva sind durch ihre fortschreitende Individuation die ersten «Handwerker» geworden. Meister Bertram (um 1355 - 1415) hat in einer Tafel des Grabower Altares dieser Tatsache ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt: Eva spinnt mit der Handspindel, die durch ihre eigene Schwere beim Drehen auf den Erdmittelpunkt gerichtet ist. Adam dagegen stößt mit der Hacke das Erdreich auf, das zu hart und dadurch unfruchtbar geworden ist. Er lässt das Werkzeug, wie Eva die Spindel, der Schwerkraft folgen und in den Grund sausen.
Hacke und Spindel sind reale Bilder für die Erdentätigkeit des Menschen. Die sich über die Erde ausbreitende Ackerfläche und die vom Zentrum der Erde ausstrahlende Schwerkraft begegnen sich kreuzförmig im Menschen. Im Kreuz liegt bildhaft die Erdenaufgabe des Menschen verborgen. Aus der Sphäre des Paradieses ist er herabgestiegen auf die Erde, um das Kreuz auf sich zu nehmen: nur so kann sich Individualität bilden.
Offensichtlich hat die Symbolkraft dieser Darstellung im Mittelalter weite Verbreitung gefunden; aus dem Jahre 1476 stammt der Holzschnitt aus Basel, der ebenso aufgebaut ist wie das Bild des in Norddeutschland wirkenden Bertram.
Bisher ist über die äußere, das Leibliche betreffende Seite dieses Entwicklungsschrittes gesprochen worden. Hand in Hand mit diesem Prozess geht ein anderer, der sich im Innern abspielt und ganz stark in das seelische Leben des Menschen eingreift und es verändert: Durch die verbotene Speise des Apfels nehmen Adam und Eva die Begierde, den Genuss als Triebkraft in ihr seelisches Leben mit auf. Vorher war der reine Spiegel ihrer Seele dem göttlichen Vater wunschlos zugewendet. Nun wird das Schmecken, das den Stoffwechselprozess einleitet, eine Angelegenheit des Herzens. Die Seele wird im Genuss vom Leib abhängig. Das Willensleben wird von einem begehrlichen, begierdehaften Element durchdrungen, das sich bis zur Leidenschaft steigern kann. Gleich in dem folgenden Kapitel der Genesis wird berichtet (1. Buch Mose, 4), wie diese ungezähmten, zügellosen Willenskräfte in Kain wirken, durch die er seinen Bruder im Zorn erschlägt.
Zwei Seiten hat uns der sogenannte «Sündenfall» gezeigt: Einerseits verbindet sich die Seele mit dem Leib durch die Begierde, die ihn leidenschaftlich erfüllen kann; dadurch ist der Mensch erst fähig geworden, ganz auf der Erde Fuß zu fassen. Andererseits ist das Aussondern der Beginn einer fortschreitenden Individuation. In diesen folgenschweren Ereignissen liegen Anlässe handwerklicher und künstlerischer Tätigkeiten: Notwendigkeit der Hüllenbildung im weitesten Sinne - und Durchgestaltung und Darstellung der eigenen Seelenkräfte mit Hilfe des Künstlerischen.
Jedes Kind macht Entwicklungsprozesse durch, die dem urzeitlichen Abstieg des Menschen auf die Erde ganz unmittelbar entsprechen. Diese Einsicht war verloren gegangen; R. Steiner hat unseren Blick dafür wieder geöffnet. Er berichtet in vielen pädagogischen Vorträgen, wie dieser Erdenabstieg des Kindes stufenweise geschieht. Durch eigene Beobachtung kann man die Bestätigung seiner Aussagen finden. Um das 14. Lebensjahr wird ein Tiefpunkt erreicht, der sich vom 12. Jahr an deutlich vorbereitet und im 16. Lebensjahr ausklingt. Jetzt erst kommt der junge Mensch auf der Erde an. Er erfährt sich in einer äußerlich-irdischen Welt, die er erst jetzt in ihrer Logik klar zu verstehen beginnt[6]. Er schaut zurück auf das verlorene Paradies der Kindheit und findet nun allmählich einen Zusammenhang mit dem, was ihn hier an äußeren Tatsachen umgibt.
Gleichzeitig aber beginnen sich in seinem Seelenraum neue keimende Kräfte zu regen, mit denen es zu leben gilt auf dieser Erde, die nun vollgültig seine Heimat werden soll. Das kann nur geschehen, wenn nicht der Kopf allein etwas über diese Welt erfährt, sondern wenn der Mensch sich tätig in diese hineinstellt. Zu einem wirklichen Be-greifen dieser Erde ist der Kopf allein nicht fähig; er kann die Dinge durch seine Sinne nur anschauen, aber nicht sich wirklich mit ihnen verbinden. Dafür ist die willenshafte Tätigkeit der Glieder, des ganzen Körpers ein geeignetes Mittel. Im Greifen, Bearbeiten und Umwandeln der Erdenstoffe wird der Mensch eins mit der Welt, in der er lebt. Im Bewusstwerden der Außenwelt durch Wahrnehmung und Denken entsteht zuerst eine Distanz, die aber durch die Tätigkeit an ihr und in ihr überwunden wird. Wirkt der junge Mensch nicht tätig auf sie ein, bleibt sein Verhältnis zu ihr ein theoretisches, zwar gewusstes, aber nicht erfahrenes. Für sein ganzes späteres Leben ist entscheidend, «wie der Mensch sich hereinzwängt in die physische Welt dadurch, dass er sich mit seinen Gefühls- und Willensorganen eben den ganzen äußeren Einrichtungen, den äußeren Gesetzen anpaßt»[7]. Diese «Gefühls- und Willensorgane» aber sind Hände und Füße.
Deshalb setzen zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr gerade die Arbeitsfächer ein: In der 6. Klasse das unmittelbare Bearbeiten der Erde, der Gartenbau; dazu das Holzwerken an der richtigen Werkbank. Zuletzt Spinnen und Weben in der 10. Klasse. Sodann eine Fülle von Arbeitstechniken, die in vielfältiger Weise den jungen Menschen anregen sollen, seine Tatkraft gerade in diesem Lebensalter zu entfalten und zu bewähren.
Wurde bis zur 8. Klasse, wie schon erwähnt, das Malen, Zeichnen, Formen durch den Klassenlehrer, also nicht als Fachunterricht, geübt und in dessen Unterrichtsgeschehen einbezogen, so tritt das bildnerische Gestalten nun von der 9. Klasse an in einzelnen Disziplinen auf. Der junge Mensch wird in die Welt der Formen und Farben eingeführt, die er draußen im Umkreis wahrnimmt, an denen aber auch das Innere gleichzeitig Anteil hat. Die aufkeimende persönliche Seelenwelt spiegelt sich in der Umwelt, in der sie sich selbst wiederfindet. Denn im Bildnerischen wird unmittelbar sichtbar, was sich aus der Seele des jungen Menschen herausarbeitet. Nicht das gilt, was er sich in seiner Phantasie vorgestellt hat, sondern wie weit er diesem innerlich Erlebten Gestaltung geben kann, die auch vor seinen Mitmenschen bestehen wird. Ein gesundes handwerkliches Element schlägt die Brücke von dem wogenden seelischen Meer, aus dem phantasievolle Ideen auftauchen, hinüber zu einer realen Verwirklichung in der äußeren Gegenstandswelt. So erscheint das, was wir «Erdenreife» nennen, nicht nur als ein Sich-Loslösen aus paradiesischer Geborgenheit, sondern als Fortschreiten des jungen Menschen von einem kindlichen Zustand zu einem solchen, der den Charakter des Eigenwillens trägt.
Alles, was gesagt wurde von dem Verlassen des Paradieses, vom Herabsteigen auf die Erde, dem Fußfassen auf dieser durch Arbeit, bezeichnet nur die äußerlichen Spuren innerer Verwandlungsprozesse. Ja selbst das Auftreten individuell gefärbter Neigungen, Wünsche, Freuden, Leiden und Nöte im neuen Seelenraum sind äußere Symptome tiefgreifender, innerer Geschehnisse. Es ist das Aufbrechen einer neuen seelischen Qualität willenshafter Art, dem Jugendlichen noch unbekannt, die dessen Körper umgestalten und sich zu eigen machen will. Was bisher noch wie von einer schützenden Mutterhülle geborgen war, erscheint nun, wenn es ans Tageslicht tritt, wie ein wogendes, unglaublich erregbares, farbig bewegtes seelisches Kraftfeld von oft dramatischer Spannung, durchglüht und erkaltet von Äußerungen entgegengesetztester Art, aus der sich eine persönliche Stellung zur Welt entwickeln möchte. Denn auch die äußere Welt wird aus der Distanz zur eigenen Persönlichkeit neu, vielleicht ernüchtert, wahrgenommen und beurteilt.
Man darf von einer «Neugeburt» im seelischen Bereich sprechen, einem Erwachen zu sich selbst und der Welt. R. Steiner nennt es die «Geburt des Seelenleibes» im Sinne von Fähigkeiten, aus denen sich mehr und mehr die Persönlichkeit herausarbeiten kann, indem sie diese Fähigkeiten ergreift und sich selbst in dem Maße realisiert, als sie diese zu entwickeln vermag und mit ihnen umzugehen lernt[8].
Damit geht allerdings die natürliche Bewegungsfreude, Anmut und Beschwingtheit verloren, die früher über jedwede Körperbewegung ausgegossen war. Ungelenk und schwer, bar allen kindlichen Zaubers, müssen nun die Bewegungsimpulse aus eigener Anstrengung entwickelt und der Körper von diesen ergriffen und durchgestaltet werden.
Durch all diese Mühen und Plagen kann sich im 3. Lebensjahrsiebt allmählich das «Ich» herausarbeiten, das noch ganz keimhaft im Schoß der Seele ruht. Denn diese Anstrengung ist Ich- Tätigkeit; sie zu entfalten, ist eine der wesentlichen Aufgaben dieses Lebensabschnittes. Jetzt wird das «Ich» noch getragen und geborgen von der Willensnatur der Seele. Hier liegen die besonderen Aufgaben für die künstlerisch-handwerklichen Fächer.
Wir können aber noch nicht weitergehen zu den Unterrichtsfächern selbst, bevor wir nicht die Entwicklung des Bewegungsorganismus im Kinde betrachtet haben. Denn jede Arbeit ist mit Bewegungsabläufen verbunden. Es ist wichtig, welche dem Kind in einem bestimmten Lebensalter zugemutet werden dürfen.
Wir beobachten, wie beim Kleinkind die Bewegungen des gesamten Körpers noch spontaner Ausdruck seiner Seelenregungen sind. Es trägt in seinen Körperbewegungen äußerlich sichtbar zur Schau, wovon es erfüllt ist; Seele und Körperbewegung sind eins. Freude, Neugier, Zorn, Schrecken - jede aus dem Umkreis angeregte Seelennuance lässt sich aus charakteristischen Bewegungs- und Ausdrucksformen ablesen.
Wenn das Kind schulreif wird, hängt die Bewegung mehr vom Rhythmus der Atmung und des Blutkreislaufes ab. Das Kind fühlt sich wohl, wenn es seine Bewegungen zum rhythmischen Sprechen und Spielen gestalten kann. Diese Neigung wird aufgegriffen durch die Eurythmie, die in der 1. Klasse als Unterrichtsfach auftritt. «Eurythmie ist sichtbare Sprache, also sichtbar gewordene Gestaltung des Atmungsprozesses. Sie ist durchlebt von dem, was sich abspielt, wenn die Atmung in den Blutprozess hinein wirkt»[9]. Es tritt das Fach «Eurythmie» also deswegen auf, weil im Kinde von der Entwicklung her gesehen eine Bereitschaft da ist, solche eurythmischen Bewegungen lernend zu erüben.
Um das 9. Lebensjahr wird das anders: da wirkt das Blut stärker in die Muskulatur hinein. Die Leichtigkeit, die dem Atem eigen ist, geht der Bewegung allmählich verloren, dafür wird sie herzhafter, fließender, geschmeidiger. Deshalb setzt in der 3. Klasse das Turnen ein, in dem das Starkwerden, das Elastischwerden des Muskels besonders geübt werden kann.
Ein weiterer wichtiger Schritt zwischen dem 11. und 12. Lebensjahr führt dazu, dass die Muskeln beginnen, sich an das Knochensystem anzuschließen. Dadurch werden die Bewegungen des Kindes schwerer und mechanischer. Denn nun ist das schwerste, härteste und dichteste System im Menschen erreicht, das ihn stützkräftig auf der Erde stehen läßt[10].
Wir sehen also, wie im heranwachsenden Kind Verdichtungsvorgänge stattfinden, die aus einem luftigen, leichten Zustand über das Wässerig-Dehnbare immer mehr in den harten, knochigen Bereich überführen. Die Bewegungsvorgänge werden davon beeinflußt und fordern für ihre Entwicklung neu einsetzende Fächer. Der Pflege des kraftvollen, auf die ungelenken Knochen gestützten Bewegungssystems kann die handwerkliche Arbeit in vollem Maße gerecht werden. Mit dem Ergreifen der Erdenkräfte wird es jetzt sinnvoll, solche Arbeit zu leisten, die der leiblichen Entwicklung des Kindes entspricht. Durch Arbeit tritt der Mensch in ein unmittelbares Verhältnis zur Welt. Wenn er einen Werkstoff der Umwelt entnimmt und sich ihm bearbeitend zuwendet, löst er sich von sich selbst und findet einen neuen Standpunkt, der teilweise außer ihm liegt.
Tagtäglich erleben wir den Wechsel von Licht und Dunkelheit; durch Wachen und Schlafen sind wir eng mit ihrem Rhythmus verbunden. Überall in Raumes- und Zeitverhältnissen können wir ihre lebendigen Wirkungen in mannigfaltigster Weise beobachten.
Aber nicht nur äußerlich leben wir in Licht und Finsternis; auch in uns selbst sind sie zutiefst verankert. Wenn man sagt: «das ist ein heller Kopf» oder «das ist ein finsterer Geselle», so meint man nicht seine Haarfarbe, sondern seelische Eigenschaften. Ein heller Kopf hat klare Gedanken; was er sagt, leuchtet mir ein, und endlich geht mir ein Licht auf. Aber erst ein Gedankenblitz macht alles sonnenklar! Für eine feinere Selbstbeobachtung ist es ganz real, das Gedankenleben als Lichtprozess zu empfinden. Das drückt sich in der deutschen Sprache noch unmittelbar aus. Dagegen lebt das Wollen im Unbestimmten, Dunklen; es drängt aus dem Unbewussten, eben nicht Klaren, Hellen heraus. «Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst», lässt Goethe den Herrn im Faust sagen; oder «es irrt der Mensch, solang er strebt», das heißt, so lange er auf der Suche ist, ohne den Weg klar zu erkennen. Noch mehr wird er willenshaft getrieben, wenn ein blinder Zorn in ihm aufsteigt.
Bedenken wir, dass sich beide Seelenkräfte, das Denken und Wollen, ihre leiblichen Organisationen als Wirkensfelder geschaffen haben - den Kopf und die Glieder -, dann wird uns klar, wie unser ganzes Menschenwesen grundlegend aus diesen Urkräften gebildet worden ist.[11]

Beide Seelenkräfte machen im Menschen Entwicklungsphasen durch; sie beginnen erst nach und nach ihre Tätigkeit zu entfalten. Um das 7. Lebensjahr erwachen Intelligenzkräfte, die vorher noch leibgebunden waren, d.h. an den Leibesorganen gestaltet haben. Nun stehen sie für die Gedankenbildung zur Verfügung; dadurch wird das Kind schulreif. Im 2. Jahrsiebt regen sich Willenskräfte, die sich vorher noch unmittelbar z.B. in der Körperbewegung äußerten. Nun werden sie selbständiger und dienen dem Heranwachsenden für seine persönlich werdenden Zielsetzungen. Gerade um das 12. Lebensjahr geschieht ein entscheidender Schritt, den wir schon von anderen Seiten aus betrachtet haben: Indem das Kind in sein Knochensystem hineinwächst und der Körper beginnt, erdenschwer zu werden, wacht diese persönlich fingierte Willenskraft auf und drängt danach, sich zu betätigen. Ein Kampf entsteht fortan zwischen den Kräften des Lichtes und der Dunkelheit, den hellen Intelligenzkräften und den dumpfen Willenskräften, die sich nun zusammenfinden und eine neue Einheit erringen müssen.[12]
In feiner Weise erlebt das Kind diese Spannung in der Schattenlehre, die Auge und Hand als Repräsentanten des Lichtes und der Willenshaftigkeit gleichermaßen betätigt. Es erlebt sich selbst hineingestellt zwischen Licht und Schatten, wie die Kugel, die es mit einem Stück Kohle in breiten, kurzen Strichlagen aufs Papier zeichnet. Vorerst ist es aber noch eine zart angelegte graue Fläche. Erst durch die Verstärkung der Dunkelheit auf der einen Seite wölbt sich die Fläche vor und wird zur Kugelform. Wird sodann der Hintergrund bei der hellen Seite der Kugel noch dunkler gezeichnet, löst sich diese aus ihrer Gebundenheit an die Fläche und tritt frei in den Raum hinaus, in dem sie nun zu schweben scheint. Wenn dann der Schlagschatten dazukommt, den die Kugel durch ihre körperhafte Dichte auf den Boden wirft, kann man erst sehen, wie sie auf dem Grund aufliegt, sich mit dem Boden verbindet. Für uns wird deutlich, wie sich hier derselbe Vorgang in ähnlicher Weise widerspiegelt, der später für die Arbeit an der Werkbank beschrieben wird (S. 44): Einerseits das Selbständig- werden, das Sich-Abgrenzen und Zu-Sich- Kommen in der Kugelform, andererseits die Verflechtung mit dem Umraum, mit der Außenwelt, hier durch den Schatten. Wie spannungsreich und erregend diese Prozesse im Kinde wogen, mag die kleine Geschichte erzählen, die eine Schülerin in der 6. Klasse nach einer «Schattenepoche» geschrieben hat:
«Es war einmal ein Schatten, der wollte dem Licht nicht mehr gehorchen. Das Licht trieb mit ihm nämlich Schabernack, es hupfte um die Kugel herum und der Schatten musste sehen, dass er auf der richtigen Seite lag. Er wurde darüber so müde, dass er einfach liegenblieb.
Aber da kam Herr D. und sagte: «Mein liebes Kind, der Schatten da, der liegt falsch! Mach ihn auf die andere Seite!» Aber der Schatten dachte nicht daran, er blieb liegen und er krallte sich fester an. Da musste das Licht sich erbarmen und ging langsam an die andere Ecke. Seitdem sind die beiden sehr große und dicke Freunde.»
Kann man den Kampf zwischen der neckischen, lockeren Intelligenz und der dumpfen Eigenwilligkeit besser beschreiben? Wie beruhigend, dass er so glücklich ausgegangen ist! Das kann nur geschehen, wenn sich eine neue Kraft regt, die diese Gegensätze überwindet, indem sie sie beherrscht und in ihren Dienst stellt: das «Ich», das sich, noch ganz im Schoß der Seele geborgen, durch die Arbeit mit den Gliedern herausschaffen kann. Rudolf Steiner nennt es das «Schwerpunktselement», zu dem sich der Jugendliche nun durchkämpfen muss. Eine wunderbare Ahnung, dass der Mensch allein diese Kraft der Mitte in sich selbst zur Entfaltung bringen kann, spricht aus dem Bericht einer anderen Schülerin (6. Klasse):
Hell und Dunkel, das sind zwei
Dinge, die so mancherlei
Bilder schön gestalten.
Licht und Schatten heißen sie.
Doch die beiden können nie
sich so recht begegnen.
Nur ein Mensch, der gerne malt,
dem könnte es gelingen,
diese beiden Gegensätze
unter einen Hut zu bringen.
Tatsächlich sind diese Kräfte des «Ich» gerade im 12. Lebensjahr besonders wirksam, aber noch ganz an den Körper gebunden. Sobald sich die Schwere in den Gliedern geltend macht, beginnt ein Gegenstoß gerade dort, wo die Schwere am konzentriertesten lastet, in den Füßen. Ein Kraftimpuls gegen die Schwere erwacht im Wachstum der Glieder, in den Füßen beginnend, dann erst im Unterschenkel; noch später folgt der Oberschenkel nach. Ganz entsprechend geschieht das Wachstum der Hände und Arme[13]. In den Gliedern regt sich das «Ich», noch ganz leibgebunden. Durch die Arbeit mit den Gliedmaßen wird es rege, und der erwachende Eigenwille trägt es in seine Tätigkeiten hinein.
Wir haben durch die Schattenlehre, die Rudolf Steiner ganz klar der 6. Klasse zuweist[14], uns noch einmal den wichtigen Schritt in die Schwere, Dunkelheit, Festigkeit der Erde bewusst gemacht. Für die Werkarbeit liegt ein so eindeutiger Hinweis nicht vor. Wir können uns die Situation aber durch Herbeiholen solcher Angaben erarbeiten, wie wir es soeben durch einen Blick auf die Schattenlehre getan haben. Der Werklehrer muss diese Prozesse in sein beobachtendes Erleben mit aufnehmen, weil sich dadurch in ihm das innere Bild des Zwölfjährigen rundet und vervollständigt. Er muss die «Schattenepoche» auch selbst übernehmen, wenn es die Situation erfordert; nicht jeder Klassenlehrer ist ihr fachlich gewachsen.
So kehren wir nun mit dem inneren Bild der erwachenden Willenshaftigkeit zur Werkarbeit zurück! Was das Kind am Werkstück in diesem Alter gestaltet, offenbart den Charakter des in dem Körper wirkenden Ich. So ist es zu verstehen, wenn Rudolf Steiner sagt, dass «die Kinder, die bei uns eigentlich gerade im Praktischen außerordentlich frei arbeiten und ihrer eigenen Erfindung sich hingeben dürfen, dasjenige, was ihnen da als Gestaltung dieses oder jenes Gliedes am Menschen eingegangen ist, in ihren plastischen Formen wiederum zum Ausdruck bringen, nicht in sklavischer Nachahmung, sondern im freien Schaffen...»[15]
Wird die Form des Werkstücks vom Lehrer festgelegt oder vorgezeichnet, kann das Kind nicht aus den Eigenkräften seines kindlichen Ich schaffen. Es kann nicht in die Welt hinaustragen, was in ihm selber lebt und zur Gestaltung drängt. Dann mag es ein braver und geschickter Mensch werden, der willig ausführt, was man ihm zuweist. Die eigen-willigen Ich- Kräfte bleiben verkümmert und werden Mühe haben, sich zu entfalten.
Naturgemäß liegen hier für den Lehrer große Schwierigkeiten vor. Wie soll er die oft verschüttete oder verbildete Willenskraft, eine gesunde Eigenwilligkeit aus dem Kind hervorlocken? Wie weit muss er anregen, Mut machen, Hilfe leisten? Gelingt es dem Klassenlehrer, das Kind so von Ideen zu begeistern, dass diese nicht nur im Kopf ruhen, «wie auf einem Ruhebett»? «Sie schlafen, diese Ideen, denn sie «bedeuten» nur etwas...», sagt Rudolf Steiner in demselben Vortrag. Dann weist er auf das pädagogische Ziel unseres Strebens: Die Kinder so zu begleiten, dass sie die Ideen nicht nur im Kopfe tragen, sondern im Herzen fühlen, dass das Herz warm wird durch die Begeisterung für den Unterrichtsstoff. Dadurch nimmt die Idee eine innere Gestalt an, wird zur lebenerfüllten Form, die das Kind unbewusst in sich bildet - wie eine Plastik, die Leben, Bewegung, Ausdruck hat. Wird dieses innere Erleben übermächtig, drängt es zum schöpferischen, willenshaften Tun.
Das Kind kommt in die Werkstatt und gestaltet das, wovon es erfüllt ist; nicht aus einer kühlen, sachlichen Vorstellung dessen, was es einmal irgendwo äußerlich gesehen hat. Was es schafft, wird nicht in einem luftleeren, abstrakten Raum stehen, sondern eine innige Beziehung zu den Kräften seiner eigenen jungen Persönlichkeit haben. Die Form des Werkstückes drängt aus den im Kinde wirkenden und schaffenden Formkräften heraus. So werden die Ideen, die der Lehrer im vorausgehenden Unterricht entwickelt hat, zur Schöpferkraft und ergießen sich in die Tätigkeit in der Werkstatt: «Das Kind lernt eigentlich alles dasjenige auch machen, was es denken lernt.» Der Werklehrer braucht nur die richtige Anleitung dazu zu geben.
R. Steiner hat hier auf ein hohes Ziel hingewiesen. Wenn der Lehrer sich intensiv bemüht, wird er Mittel finden, dem Kind dazu zu helfen, sich in der Formgebung zu äußern, ohne es festzulegen. Der Eigenwille, das Dunkle im Menschen trägt das Ich gleichsam in die leibliche Organisation herein; deshalb müssen ihm Hilfen geboten werden, damit es sich entwickeln kann.
[1] R. Steiner, GA 305, 23.8.1922
[2] Z.B. Stuttgart 1919 (GA 294), Oxford 1922 (GA 305), Ilkley 1923 (GA 307)
[3] R. Steiner, GA 300, sie auch „Werkstattbrief“,Manuskriptdruck, Hamburg 1986ff
[4] R. Steiner, GA 303, 4.1.1922
[5] Es ist an allen Waldorfschulen üblich, zu Weihnachten durch die Lehrer für die Schüler das „Oberuferer Paradeisspiel“ und das „Christgeburtsspiel“ aufzuführen. Diese Spiele halten sich einerseits eng an die biblische Überlieferung; andererseits ergänzen sie diese durch erstaunliches Verständnis der Vorgänge, die in bildhafter Art vor den Zuschauern dargestellt werden.
[6] R. Steiner, GA 303, 41.1.1922
[7] R. Steiner, GA 302, 13.6.1921
[8] R. Steiner hat in den meisten seiner pädagogischen Vortragskurse und an vielen Stellen seines Gesamtwerkes über diese Vorgänge gesprochen und geschrieben. Grundlegend: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, 1907, 7. Aufl. Dornach 1988
[9] C. v. Heydebrand, Vom Lehrplan der Freien Waldorfschulen
[10] R. Steiner, GA 303, 2.1.1922 und GA 305, 22.8.1922
[11] Siehe auch R. Steiner, GA 291, 5.12.1920
[12] R. Steiner, GA336, 8.7.1920
[13] E.-M. Kranich in: Erziehungskunst, Heft 9/1983
[14] R. Steiner, GA 295, 6.9.1919
[15] R. Steiner, GA 307, 17.8.1923