HERBERT SEUFERT
Eine Konferenzbemerkung Rudolf Steiners weist hin auf die durch Jahrtausende allgemein übliche Gewohnheit, mit Gesang jedwede Arbeit zu verrichten:
«... wenn Sie versuchen - das ist ein Ideal dasjenige, was man Rhythmus nennt, in die Arbeit hineinzubringen: wenn Sie versuchen, den musikalisch-gesanglich-eurythmischen Unterricht mit dem Handfertigkeitsunterricht in Zusammenhang zu bringen. Es wirkt auf die Kinder außerordentlich gut. Ich empfehle Ihnen dazu ^Arbeit und Rhythmus» von Karl Bücher.[1] Dies Buch sollte da sein. Alles Arbeiten ging aus vom musikalischen Arbeiten, nicht wahr, beim Dreschen, Schmieden, Pflastern. Heute hören Sie es fast nicht mehr. Gingen Sie aber früher auf das Land hinaus und hörten dreschen: der Dreschflegel wurde im Rhythmus geführt. Ich meine, das können wir wiederum hineinkriegen. Ich meine das, wenn ich sage, dass wiederum Geist in die Sache hineinkomme.»[2]
Aber ist es nicht zu nostalgisch, die Schüler ihre Handwerksarbeit mit Gesang begleiten zu lassen? Würden wir und auch die Schüler auf so etwas «Museales» eingehen? Wo doch heute auf jeder Baustelle das Radio für Unterhaltung sorgt? Und wenn man es machen wollte - wie sollte es geschehen?
Ein Dutzend Jungen und Mädchen der 9. Klasse sind beim Kupfertreiben. Eifrig hämmern sie an ihren Schalen. Man kann kaum ein Wort miteinander wechseln; der verwirrende Klang der Schläge, die hart auf das Metall treffen, das typische Ping-Ping-Ping erfüllt den Raum. Auf einmal hört man dort zwei oder drei im Gleichklang hämmern, es gesellen sich andere mit ihrem Schlag dazu, und nun schlagen alle auf einmal im gleichen Takt. Dann verliert es sich wieder ein wenig, einer pausiert, die anderen hämmern weiter, und unversehens sind wieder alle im gleichen Takt. Einer beginnt auf diesen Takt eine rhythmische Melodie zu pfeifen, und alle arbeiten im Gleichmaß nach dem Rhythmus dieses Liedchens, es spornt an, wirkt sogar ein wenig «ansteckend», keiner pausiert jetzt, und so wird über eine ganze Weile ununterbrochen und mit gleich festem Schlag gehämmert. Jeder Schüler erlebt es in den Epochen beim Metalltreiben, und immer wieder tritt die Verwunderung auf über diese Tatsache, dass sich ein gleicher Arbeitsrhythmus einstellt und oft auch, dass der Fortgang der Arbeit positiv beeinflusst wird. Und dann kommen auch die Fragen der Schüler. Da erinnern sich einige an die Landbauepoche in der 3. Klasse, als sie den selbstgesäten und geernteten Roggen dann auch dreschen durften. Dabei hatten sie unentwegt das Dreschliedchen gesungen und unermüdlich im Takt gearbeitet, bis am Ende der Stunde alles Korn gedroschen war.
Hört ihr die Drescher, sie dreschen im Takt, Klipp klipp klapp Klipp klipp klapp Klipp klipp klipp klapp!
Das sind Anknüpfungspunkte, um auf frühere Arbeitsweisen einzugehen und - wie zu zeigen sein wird - auch deren Aktualität zu schildern. Unser früherer Hausmeister hatte das Schreinern gelernt zu Beginn dieses Jahrhunderts. Mittlerweile alt geworden, erinnerte er sich gern seiner Lehrzeit, und jedes Mal, wenn er die Holzwerkstatt betrat, fing er mit einem Liedchen an, einer Abwandlung des bekannten Schnitzelbankliedes.
Is des net e Hobelbank, Hobelbank ei-ei-ei du scheene Hobelbank kurz und lang kurz und lang...
Und nun erzählte er, wie er als Lehrling von den Gesellen das Hobeln beigebracht bekam, immer im gleichen Rhythmus wie das Lied den Hobel vorzustoßen und zurückzuziehen. Sie hätten - so erzählte er weiter - dann oft bei den Hobelarbeiten neben anderem auch dies Liedchen gesungen. Je nachdem, welcher Auftrag vorlag, haben sie dann an entsprechender Stelle im Lied die Worte ausgetauscht: Hobelbank, Gartentür, Küchenbank, Kleiderschrank... und so fort.
So hat man früher aus gutem Grund die Arbeitsbewegungen mit Liedern begleitet. Warum? Mache ich die Bewegungen zu schnell, ermüde ich sehr bald, mache ich sie zu langsam, ist nicht der nötige Schwung beim Vorstoßen, durch den der Span abgehoben wird. In beiden Fällen geht mir «die Puste aus», und die Qualität meiner Arbeit wird in Frage gestellt.
Dahinter steht das uralte «Gesetz», dass die Arbeitsbewegung mit Puls und Atemrhythmus zusammenstimmen muss: dann gelingt das Werk, und man hält über lange Zeit durch, ohne unnötig zu ermüden. Die Lieder ermuntern, geben in der Textgestaltung der Phantasie breiten Spielraum, und so entstand oftmals ein lustiges Arbeitslied.
Mit den Schmiedeliedern war das auch so. Da steht der Meister und gibt den Schlag vor, die beiden Gesellen hauen nacheinander zu, und so geht es in den Dreier-Takt. Die meisten Schmiedelieder folgen diesem Rhythmus. So hat auch Goethe in dem Lied der Schmiede aus der «Pandora» im Versmaß diesen Rhythmus aufgegriffen: «Zündet das Feuer an, Feuer ist oben an...». Richard Wagner lässt Siegfried beim Schmieden ebenfalls im Rhythmus singen: «Schmiede mein Hammer ein hartes Schwert!»
C.F. Meyer gestaltete in seinem Säergedicht den Arbeitsrhythmus des Sämanns in jambischen Versen: «Bemesst den Schritt, bemesst den Schwung, die Erde bleibt noch lange jung, dort
fällt ein Korn...». Der Sämann greift in den Körnersack und streut die Körner aufs Land. Hineingreifen - Werfen, wobei der Schwung, die Kraft auf den Wurf gelegt wird. So schreitet er im gleichen Rhythmus über den Acker vorwärts.
Durch die Darstellungsfreudigkeit der Ägypter, der Griechen und Römer ist uns so manches überliefert, was Licht wirft auf die Arbeitsweisen, die bei den gewaltigen Bauwerken angewandt wurden. Da sehen wir auf einem ägyptischen Kalksteinrelief dargestellt, wie eine riesige Statue auf Kufen von unzähligen Arbeitern an Seilen gezogen wird. Auf dem Stein steht ein Mann, macht große Armbewegungen und hat den Mund weit geöffnet. Er singt! - und jedesmal auf den betonten Taktteil seines Gesanges greifen die Männer in die Seile und ziehen den gewaltigen Block vorwärts. Ist es allein das Skandieren im Rhythmus, das, auf das letzte Minimum reduziert, uns heute noch als das «Hau-ruck» geläufig ist? Oder ist mit dem rhythmischen Gesang noch etwas anderes verbunden? Wir erfahren durch Thor Heyerdahls Buch «Aku Aku», wie in Polynesien die Arbeit an den Felsbildern nur durch Gesang gelingt. Oder der Felsentempel Machupichu in Peru: Wie war es möglich, auf diesen steilen Bergkegel die gewaltigen Blöcke von einem Steinbruch in einem benachbarten Seitental heraus- und hinaufzuschaffen? Auch hier war diese Arbeit durch Gesang in ganz bestimmten Tonfolgen begleitet.
Wenn jetzt häufig von früheren Zeiten die Rede war, so zeigt ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit, wie aktuell diese Dinge noch sind - oder wieder sein könnten! Beim Bau des Assuan-Staudamms ist der Felsentempel von Abu-Simbel aus Gefahr vor Überflutung gänzlich abgetragen und oberhalb wieder aufgebaut worden. Die gesamte Anlage wurde in Blöcke zersägt und nach oben transportiert. Dabei ist eines Tages ein Motorhebezeug ausgefallen, als ein großer Block gerade hochgeschafft werden sollte. Die Ingenieure berieten im Zelt, was zu tun sei: Ersatzteile zu beschaffen und die Reparatur würde mindestens vier Tage in Anspruch nehmen. Draußen sangen die Arbeiter - nach Meinung der Ingenieure ein Zeitvertreib. Wie erstaunt waren sie aber, als sie aus dem Zelt traten: der Block war weg! Wie vor viertausend Jahren hatten die Arbeiter unter Anleitung des Vorsängers mit rhythmischem Gesang und den danach eingerichteten Arbeitsbewegungen den Block mit Menschenkraft fortbewegt.
Die Flussschiffer hatten beim Treideln ebenso ihre Arbeitslieder, bei welchen sie auf dem betonten Taktteil mühselig ziehend flussaufwärts schritten. Sie sangen meist schwermütig-eintönige Lieder, wenn sie auf dem Treidelpfad in die Seile gingen. Am bekanntesten ist wohl das der Wolgaschiffer. Erschütternd eindringlich ist das Gemälde von J. Repin, wo die zerlumpten, abgehärmten Männer an breiten Ledergurten die Lastkähne stromaufwärts ziehen, ein Tagewerk vollbringend, das ohne den rhythmischen Gesang nicht durchzuhalten gewesen wäre.
Aber auch auf vielen anderen, ja fast allen Arbeitsgebieten gehörte der Gesang oder rhythmische Musik dazu. Es ist eine griechische Terrakottagruppe erhalten, die darstellt, wie Frauen an einem Backtrog stehen und Teig kneten. Am Kopfende des Troges steht jemand mit einer Flöte und spielt Lieder, auf deren Rhythmus die Frauen den Teig durchkneten. Dadurch wird der Teig gleichmäßig in der Konsistenz. Man stelle sich vor, ohne vorgegebene Rhythmen würden ein Melancholiker, ein Choleriker, ein Phlegmatiker und ein Sanguiniker im gleichen Teig kneten! Was mag das für Brote geben?
Wir sehen an all den Beispielen, die sich vervielfachen lassen, was der rhythmische Gesang bewirken kann. Wir sehen, wie ein Lied oder eine Tonfolge das Tempo angibt, in welchem ein Mensch am besten arbeiten kann, damit das Maß von Atem und Puls in richtigem Verhältnis zur Arbeitsbewegung steht. Und was den Schülern gleich auffiel: die Durchhaltekraft wird durch das Singen verstärkt. Ferner wird - das zeigte das Beispiel am Backtrog - die Qualität des Produktes gewährleistet, ja sogar verbessert.
Eingangs wird das Erlebnis der Schüler beim Metalltreiben erwähnt. Daran kann man anknüpfen und ihnen von all diesen früheren Arbeitsweisen erzählen. Manchmal weiß sogar einer dazu noch einen Beitrag zu geben. In jedem Fall ist nicht nur ein Verständnis für diese alten Gebräuche geweckt, sondern auch ein Bezug und sogar Hilfestellung gegeben für das eigene Tun. Beim Neuntklässler geht es ja bereits um das Verstehen der Zusammenhänge, nicht mehr um ein naives, selbstverständliches, unbewusstes Sich-Hineinversetzen in den Arbeitsprozess, wie es der früheren Menschheit eigen war.
So finden die Schüler unter den genannten Beispielen leicht heraus, dass es hierbei verschiedene Möglichkeiten gibt: Zum einen, dass eine vielleicht eintönige Arbeit, die ich alleine zu verrichten habe, mir durch ein Lied mit frischem Rhythmus, der sich in die Arbeit einfügt, besser oder leichter von der Hand geht. Zum anderen, dass Arbeiten, die von mehreren oder gar vielen Menschen geleistet werden, eines Einsatzzeichens bedürfen und dies in dauernder rhythmischer Folge wiederholt werden muss, wie es z.B. beim Rudern der Fall ist. Da bietet es sich an, auch einmal von den Sklaven zu sprechen, die auf Galeeren rudern mussten. Zum dritten sieht man, dass durch Rhythmen die Leistung des einzelnen, besonders aber die Arbeit in der Arbeitsgruppe gesteigert werden kann. Das konzentrierte Zusammenwirken aller Kräfte im rhythmischen Gesang oder Takt befähigt zu Arbeitsleistungen, die nicht voraussehbar sind und ans Wunderbare grenzen, wie es bei den Felsfiguren von Aku Aku offensichtlich der Fall war.
Und viertens sehen wir, dass Rhythmen auf gewisse Qualitäten der Produkte einwirken können. Das ist aber noch ein ganz junges Forschungsgebiet, dessen Resultate tief in Lebensprozesse hineingreifen.
Es ist gut, so etwas vorzubringen, um dem Schüler das Verständnis für solche Vorgänge aufzuschließen. Rhythmische Arbeitsprozesse sind ja heute überhaupt kaum noch anzutreffen, weil sie durch die Maschinen fast alle in kontinuierliche Bewegungen übersetzt worden sind. Selbst das Bohren, Sägen, Brotschneiden oder gar das Zähneputzen ist dem Menschen von der Maschine abgenommen worden. Dieser bedient oder kontrolliert nur noch - da ist Rhythmus nicht mehr gefragt. Durch solche Mechanisierung erstarrt das Arbeitsleben insofern, als Lunge und Herz-Kreislauf, unsere rhythmischen Organe, nicht mehr mit dem Bewegungsorganismus zusammenschwingen und von hier aus harmonisiert werden können. Die Nerven-Sinnes-Tätigkeit des Menschen einerseits und die Gliedmaßen-Muskel-Tätigkeit andererseits ermüden unseren Körper - nicht aber Puls und Atem, die unermüdlich bis zum Lebensende in uns wirken. Diesem Rhythmus die Arbeitsbedingungen anzupassen, ist nicht nur eine ökonomische, vielmehr eine hygienisch-therapeutische Angelegenheit.
Jeder gesunde Rhythmus aber ist ein Lebensträger! Der ausgewogene Wechsel von Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Bewegung und Ruhe, Einatmen und Ausatmen usw. ist eine ganz wesentliche, mehr im Verborgenen wirkende, meist nicht beachtete Grundlage körperlicher Gesundheit.
In der Waldorfschule werden rhythmische Bewegungen im Zusammenhang mit Sprache und Klang in vielfältigster Weise gepflegt; in den Werkstätten fordern Schmieden, Hobeln, Hämmern, Sägen immer zu rhythmischen Arbeitsprozessen heraus, aber nur in der kleinen Gruppe, zu zweit oder allein.
Eine große Bedeutung hat es bereits für den Schüler, wenn der Werklehrer beim Schnitzen mit dem Hohleisen das lockere Springen des Klöpfels in der Hand vormacht und der Schüler diesen nicht verkrampft in die Faust preßt. Da wird im Schlagen schon Rhythmus wirksam. Ein weiteres kommt hinzu: Das Hohleisen wird am Holz angesetzt; die ersten Schläge des Klöpfels sind tastend - die Tiefe des Schnittes, die Richtung des Hohleisens zum Verlauf der Holzfaser wird abgeschätzt; dann steigern sich die Schläge und klingen zuletzt ab, wenn das Hohleisen allmählich wieder aus dem Holz herausgeführt wird, um mit dem nächsten Schlag zu beginnen: ein rhythmischer Vorgang! Ein anderes Beispiel: Das Einschlagen eines Nagels beginnt mit kleinen, vorsichtigen Schlägen, um zuerst dem Nagel den nötigen Halt im Holz zu geben; dann steigert sich die Wucht der Schläge, der Klang wird heller, bis dann der letzte Schlag den richtigen Sitz gibt. Dieser Vorgang lässt sich gar nicht im gleichmäßigen Takt durchführen, weil der Widerstand des Holzes immer größer wird, je tiefer der Nagel geschlagen ist; Kraft und Ausmaß des Schlages müssen rhythmisch gesteigert werden! Ganz anders ist das Sägen mit der Baumsäge, wo es darauf ankommt, im Hin- und Herschwingen das richtige Zeitmaß zu finden, das durch Atem und Herzschlag der Sägenden, ihre Körpermaße, aber auch durch den Widerstand des Holzes, die Art der Säge und ihrer Zahnung bestimmt wird.
In vielen solchen Arbeitsverrichtungen liegt die Möglichkeit verborgen, sie durch richtige Anleitung zu einem gesunden rhythmischen Vorgang zu machen. Der Werklehrer sollte versuchen, jeden «mechanischen» Arbeitsgang in einen rhythmischen zu verwandeln.
Aber der musikalische Einfluss auf die Arbeit geht noch einen Schritt weiter: Eine ganze Arbeitsgruppe kann über den Takt durch eine Melodie zum Rhythmus geführt werden, wie wir es beim Kupfertreiben gesehen haben. Was bedeutet das? Im Singen äußert sich die Seele des Menschen. Sie fließt gleichsam, von den Luftwellen getragen, in den Bewegungsrhythmus und damit in den gesamten Arbeitsprozess ein. Die Arbeit wird nicht nur von der Vorstellung geleitet und von Muskelkraft ausgeführt, sondern vom durchseelten Atemrhythmus mitbestimmt: der ganze Mensch ist am Arbeitsvorgang beteiligt, - wodurch «wiederum Geist in die Sache» hineinkommen kann, wie es R. Steiner dachte. Ein gleichmäßig fortlaufender Takt bei der Arbeit ermüdet; der ihn überwindende Rhythmus belebt, erfrischt und befreit von der niederdrückenden Last, die Arbeit haben kann, wenn sie rein mechanisch nur mit Muskelkraft ausgeführt wird.
[1] K. Brücher, Arbeit und Rhythmus
[2] R. Steiner, GA 300, 23.6.1920